Ein Königspaar hatte eine Tochter, die ihnen nicht zu Gefallen leben wollte. Da wurde der Vater so zornig, daß er sie verwünschte. Die Tochter fuhr aus dem Hause und verschwand. Das machte dem Vater großen Verdruss. Er liess einen Ratgeber kommen, und dieser sagt:
„Legt in eine Totengruft einen Sarg und stellt ein ganzes Jahr eine Wache daneben, dann werdet ihr die Tochter zurückbekommen!“ Der König befolgte den Rat, aber jeden Morgen war die Wache tot, so dass sich zuletzt niemand mehr dafür hergeben wollte. Da kam ein Soldat, der am Königshof um Arbeit nachfragte. Der König stellte ihn als Wache an und führte ihn in die Gruft.
Als der Soldat allein war, dachte er: „Da bleibe ich schon nicht; wenn die Nacht kommt, gehe ich fort, das Grab kann auch ohne Wache sein.“ Er sah sich um, wie er entfliehen könne; er ging und öffnete das Fenster der Torengruft, und als es nachtete, schlüpfte er zum Fenster hinaus. Da stand ein graues Männchen davor, das ihn ansprach:
„Hans, halt ein, es soll dein Glück sein!
Geh nur wieder hinein, es wird dir nichts geschehen. Verstecke dich ein Viertel vor Mitternacht hinter dem Altar der Totengruft!“ Der Soldat ging wieder durchs Fenster zurück und wachte. Ein Viertel vor zwölf versteckte er sich, und um Mitternacht entstand ein grosser Lärm. Die toten Leiber regten sich, um die Wache zu suchen und zu zerreissen. Ein Viertel nach zwölf hörte der Lärm wieder auf, und der Soldat konnte seine Wacht wieder verrichten. Als der König am Morgen kam, war er erstaunt, die Wache gesund und lustig anzutreffen. Der Soldat dachte: „Heute Nacht kann mir das graue Männchen sagen, was es will, ich bleibe nicht in der Gruft!“ Bei Einbruch der Nacht schlüpfte er wieder zum Fenster hinaus, um fortzugehen. Da rief ihm das Männchen wieder zu:
„Hans, halt ein, es soll dein Glück sein!“
Er solle sich ein Viertel vor zwölf hinter dem Betstuhl verstecken und sich nicht fürchten. Der Soldat befolgte den Rat, versteckte sich, und kurz vor Mitternacht kam der Geist wieder, tobte und lärmte und als er keine Wache fand, verschwand er wieder. Am Morgen kam der König und fand zum grossen Erstaunen die Wache noch am Leben.
Der Soldat aber dachte, diese Nacht bleibe er dann schon nicht. Als er fliehen wollte, rief das Männchen:
"Hans, halt ein, es soll dein Glück sein!
Verstecke dich vor Mitternacht an dem Ort, wo man singen wird.“ Der Soldat befolgte den Rat wiederum. Ein Viertel vor zwölf kam der Geist und lärmte eine halbe Stunde lang, dann trat er in einer abscheulichen Gestalt vor den Soldaten, tat ihm aber nichts zuleide. Dann verwandelte sich der Geist in die Königstochter, und der Soldat und die Königstochter hielten bald darauf Hochzeit.
Quelle: J. Jegerlehner, Sagen und Märchen aus dem Oberwallis, Nr. 139
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.