Um den Bichelsee, der auf der Landkarte nicht gut oder auch nicht schlecht zu finden ist, weil er gar klein ist, scheint es nicht ganz geheuer zu sein. Früher befand sich dort, wo jetzt das Dorf Bichelsee *) reizvoll an der Thurgauer Grenze liegt, ein Schloss, und man erzählt sich, dass von seinem hochragenden Turm eine Kette über den See bis zur Burg Haselberg gespannt gewesen sei. Über diese Kette sei dann immer ein Eichhörnchen gelaufen, sicherer als die berühmten Seiltänzer aus dem Hause Karl Knie. Das habe in gefahrdrohenden Zeiten den Briefboten gespielt, indem es über die Kette Briefschaften von einem Burgherrn zum andern getragen habe.
Einst, in alten Zeiten, rauschte da, wo jetzt der liebliche See in harmloser Neckerei den Blumen seinen Gischt in die Kelche spritzt, ein gewaltiger Eichwald. Dieser Wald gehörte einer Witwe. Sie freute sich seiner sehr. Oft lag sie in seinem Schatten und sah den Sonnenkringeln zu, die im Moos und um die Baumstämme Fangmich und Versteckens spielten.
Aber ein gottvergessener Nachbar, der den schönen Wald auch gerne gehabt hätte, weniger der Sonnenkringel auf dem Moos, als der dicken nutzbaren Stämme wegen, verstand es, ihn ihr zu rauben. Und da sie eine Witfrau war und sich nicht genugsam zu wehren wusste, wollte es ihr nicht gelingen, zu ihrem Rechte zu kommen. So verlor sie denn die hundertjährigen Eichen für immer.
Das nahm sie sich aber so zu Herzen, dass sie sich völlig unglücklich fühlte, denn der hohe Wald war ihr Stolz und ihre Hoffnung gewesen. In ihrem Zorne verwünschte sie den ihr so schändlich abgefrevelten Wald in den Boden hinein.
Jetzt ging ein grausiges, unheimliches Rollen und Schüttern durch die Erde. Sie erbebte. Wie ein feuerspeiendes Ungetüm zeigte sich plötzlich eine brandschwarze Wolke auf den Hügeln, die den Tag in Nacht verwandelte, und dann stürzte sich heulend ein Sturm auf den Wald los. Da zersplitterten die trotzigsten Eichen. Es krachte, blitzte und donnerte in einem fort, und am Himmel erschienen Feuerzeichen aller Art. Die Erde schien zu stöhnen und zu zittern wie ein gequältes Tier.
Als sich die grauenvolle Finsternis wieder verzog, und als der alles reutende Sturm sich endlich legte und die schwarze Wetterwolke nur mehr von weitem knurrte, wie ein böser Hund, den man an die Kette gelegt hat, war da, wo eben noch der Eichenwald gestanden hatte, ein dunkelgrüner See, der mit vielverschweigenden Augen ins Land schaute.
So hatte sich denn der Fluch erfüllt. Noch lange darnach zerrissen die Fischer ihre Netze an den entwurzelten Eichenbäumen des Sees.
Die Leute aber sagen, der See sei unermesslich tief, und er stehe mit andern, weit entlegenen Gewässern in geheimer Verbindung.
*) Das Dorf Bichelsee gehört heute zum Thurgauer Tannzapfenland
Meinrad Lienert, Zürcher Sagen. Der Jugend erzählt, Zürich 1918.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.