Ein Königssohn hatte sich vorgenommen, die Fee der drei goldenen Äpfel heimzuführen. Er bat seinen Vater um die Erlaubnis dazu und machte sich auf den Weg, sie zu suchen. Auf seiner Wanderschaft traf er eine alte Frau an und fragte sie, wo die Fee mit den drei goldenen Äpfeln sich aufhalte. Sie gab zur Antwort: «Das weiß ich nicht, mir ist nur so viel bekannt, dass man, um sie zu finden, einen Sack voll Hirse, einen Sack voll Brot, einen starken Baumast, einen Besen und ein Seil braucht.»
Der Prinz verschaffte sich alle diese Dinge und machte sich auf die Reise. Unterwegs flogen einige Adler auf ihn herab, die wollten ihn zerreißen. Er warf ihnen den Sack voll Hirsekörner hin und zog weiter. Dann kamen ihm Hunde entgegen, die zeigten ihm hungrig die Zähne. Er warf ihnen Brotstücke hin und zog seine Straße vorwärts. Alsdann begegnete er einigen Männern, welche mit ihren Schultern schwere Steine emporzuheben suchten. Er schenkte ihnen den Baumstamm, zeigte ihnen, wie sie ihn als Hebebaum benützen könnten und zog weiter. Hierauf traf er einen Bäcker, der den Backofen mit seinen Händen wischte. Er gab ihm den Besen und wanderte weiter. Dann fand er eine Frau, die den Wassereimer mit der bloßen Hand aus seinem Ziehbrunnen zog. Ihr schenkte er das Seil und zeigte ihr, wie sie es bequemer haben könnte.
Endlich gelangte er an ein Haus und trat ein. Es war jedoch niemand zu sehen. In einer Kammer lagen drei Äpfel aus reinem Gold. Er nahm sie weg und machte sich eiligst davon. Das hatte jedoch eine alte Frau bemerkt, und lief ihm nach wie der Wind, um ihn zu fassen. Auf seiner Flucht war er bereits zum Ziehbrunnen gekommen, wo die Frau den Wassereimer mit dem Seil herauszog. Die Hexe schrie ihr schon von weitem entgegen: «Halt ihn fest!» Aber die Frau antwortete: «Nein, nein, dieser hat mir das Seil geschenkt.» Dann kam er zum Bäcker gelaufen und die Alte rief wieder: «Halt ihn fest!» Der Bäcker aber erwiderte: «Nein, denn er hat mir den Besen gegeben» Und so konnte er sich vor den Steinhauern, vor den Hunden und den Adlern retten, bis er an einen Ort gelangte, wo er vor allen Gefahren sicher war.
Müde geworden, setzte er sich unter einen Baum und öffnete einen der goldenen Äpfel. Es kam ein sehr schönes Mädchen heraus und sagte zu ihm: «Gib mir zu trinken!» Und der Königssohn antwortete: «Ach wie schade, ich habe kein Wasser», worauf sie sprach: «Nun gut, dann muss ich sterben.» Und damit verschwand sie.
Hernach gelangte er an ein Waldbächlein. Er setzte sich nieder und öffnete den zweiten Goldapfel. Aber während er dies tat, versiegte der Bach und kein Wasser war mehr zu finden. Wieder stieg ein bildschönes Mädchen aus dem Apfel hervor und wünschte zu trinken. Zu seinem Schmerz konnte er auch ihr kein Wasser reichen, und sie verschwand.
Schliesslich kam er zu einem stark sprudelnden Brunnen. Dort setzte er sich wieder nieder und öffnete den letzten Apfel. Und siehe, diesmal kam ein Mädchen heraus, das wunderlieblich und weit schöner war als die zwei andern. Auch es begehrte zu trinken.
Er reichte ihm einen Becher voll frischen, herrlichen Wassers und sie trank. Dann sprach der Fürst ganz glücklich zu ihr: «Bleib hier. Ich will schnell zu meinem Palast zurückkehren, der nicht weit von hier entfernt ist und eine schöne Kutsche, Pferde und Dienerschaft herbeiholen. Dann werde ich dich in aller Pracht in mein Haus führen.»
Sie blieb am Brunnen sitzen und der Prinz eilte glückstrahlend nach Hause. Während er jedoch weggegangen war, kam eine alte Hexe an den Brunnen, Wasser zu schöpfen. Sie war neidisch auf das schöne Mädchen und wollte es kämmen. Und während sie ihre wundervollen langen Haare kämmte, steckte sie ihr eine grosse, verzauberte Nadel ins Haar. Da wurde das reizende Mädchen zu einer Taube verwandelt und flog fort.
Die Alte aber setzte sich an ihrer Stelle an den Brunnen und wartete auf den Königssohn. Dieser kam bald darauf mit einer goldenen Kutsche, mit Pferden und Dienerschaft zurück, und als er sah, wie hässlich sie war, fragte er sie, woher das komme. Und sie erwiderte: «Weil ich großen Hunger habe.»
Da führte sie der Prinz in seiner prächtigen Karosse nach Hause und befahl, dass man ihr sogleich ein glänzendes Mittagessen bereitete. Die Taube aber war ihnen nachgeflogen, und während der Koch den Braten schmoren liess, sang die Taube:
Koch, schöner Koch, schlaf fröhlich ein,
So wird dein Braten angebrannt sein!
Darauf versank der Koch in tiefen Schlaf und der Braten brannte an. Und so geschah es zweimal nacheinander. Unterdessen verging die hässliche Alte beinahe vor Hunger und Wut. Das dritte Mal endlich gelang es dem Koch, den Braten richtig zuzubereiten; aber die Taube flog immer über den Speisen her, so dass niemand recht essen noch sie fangen konnte.
Da streckte der Prinz seine Hand aus, und die Taube flog herbei. Er nahm das Tierchen vorsichtig auf seine Hand, liebkoste es und bemerkte dabei eine lange Nadel in ihrem Gefieder. Er zog sie ihr sachte heraus, und alsbald verwandelte sich die Taube wieder in das wunderschöne Mädchen, das er am Brunnen hatte warten lassen.
Als die abscheuliche Hexe sah, dass ihr Betrug nunmehr entdeckt war und ihr Spiel ein böses Ende nehmen könnte, machte sie sich heimlich aus dem Festsaal und kam nicht wieder. So gewann der Königssohn das schöne Mädchen mit den drei goldenen Äpfeln und lebte mit ihr in großem Glück.
Quelle: Walter Keller, Tessiner Sagen und Volksmärchen, Märchen erzählt in Rovio von Luigia Carloni-Groppi, 1923
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.