Ein junger Mann, der arm wie eine Kirchenmaus war, nahm ein junges Mädchen zur Frau, das noch ärmer war als er. Gott der Herr schenkte ihnen mit der Zeit elf Kinder. Mann und Frau arbeiteten unermüdlich; aber dennoch waren die Ausgaben immer größer als die Einnahmen, und sie konnten es nicht vermeiden, in Schulden zu geraten.
Da wollte sich der Mann, koste es was es wolle, aus diesem Elend befreien. Er entschloss sich, in die Welt hinauszugehen, um sein Glück zu suchen. Er wanderte und wanderte, bis er in einen unermesslichen Wald kam, welcher von unzähligen Fußwegen durchkreuzt wurde, die nach allen möglichen Richtungen führten. Da blieb er stehen und dachte darüber nach, welchen Weg er nehmen sollte, als plötzlich ein vornehm gekleideter Herr vor ihm stand. Das war der Teufel.
Der sprach mit leutseliger Stimme zu ihm: «Was hast du, Wandersmann, dass du so traurig bist?» Da erzählte ihm der arme Mann sein ganzes Elend. «Ich will dich reich machen», versetzte der unbekannte Herr, «aber nur unter einer Bedingung: Nach einem Jahr und einem Tag musst du dich nämlich wieder in diesem Wald einfinden und mir dann sagen, wie viel Fußwege - man nennt sie die Wege von Babilonia - in diesem Wald zu finden sind. Bist du damit einverstanden? Willst du diese Bedingungen annehmen?» - «Ja freilich bin ich einverstanden», erwiderte der arme Mann.
Hierauf zog der Fremde aus seiner roten Weste einen grossen Beutel voller Golddukaten und gab sie ihm.
Gänzlich außer sich vor Freude kehrte der Mann wieder nach Hause zurück, zeigte seiner Frau das viele Gold, und auch sie war überaus glücklich. Jetzt waren sie mit einem Male reiche Leute geworden. Sie bezahlten alle ihre Schulden unauffällig, kauften ihren elf Söhnen neue Kleider und verschönerten ihr Haus, kurzum, sie genossen ihren Reichtum und wurden von den Nachbarn nicht wenig beneidet.
Inzwischen ging die Zeit vorüber. Es fehlten nur noch vierzehn Tage, bis die Frist des Vertrages, den er mit dem fremden Mann im Wald geschlossen hatte, abgelaufen war. Nun anvertraute der Mann das Geheimnis seiner Frau. Alle beide zerbrachen sich den Kopf und plagten ihr Gehirn, um die Zahl der Fußwege zu erraten. Aber das war eher eine Arbeit für einen Herkules.
Die Frau war scharfsinnig und sagte eines Tages zu ihrem Mann: «Führe mich in den Wald, wo du jenem reichen Herrn begegnet bist, denn ich habe einen Plan. Ich werde es schon herausbringen, wie viele Fußwege in diesem Walde sind.» Also zeigte der Mann seiner Frau den Weg in den geheimnisvollen Wald und die Stelle, wo ihm der Fremde begegnet war.
Drei Tage, bevor das Jahr und ein Tag vorüber waren, bestrich die Frau ihren ganzen Körper mit Honig. Dann trennte sie ein Kissen auf, zerstreute die Flaumfedern auf ihrem Bett und legte sich in diesen Flaum. Die Federn blieben an ihrem Körper und auch im Gesicht hängen. und nur die Augen blieben frei. Jetzt sah sie aus wie ein ganz abenteuerlicher Vogel.
Sobald es dunkel wurde, begab sich die Frau in den großen Wald an die Stelle, wo der Fremde durchkommen musste, stellte sich auf den Baumstrunk einer Buche und wartete daselbst. Fünf Minuten später erschien der Unbekannte. Da fing die Frau an wie ein Vogel zu flattern und stieß ein seltsames Geschrei aus. Der Herr, d, h. der Teufel, betrachtete den sonderbaren Vogel misstrauisch, bekam Angst und rief aus: «Seit Hunderten von Jahren, wo ich durch diesen Wald streife und alle diese Fußwege gehe - man nennt sie diejenigen von Babilonia, und es sind deren 366 an der Zahl - habe ich niemals ein derartiges Geschöpf hier gesehen!» Und als er das gesprochen hatte, machte er sich davon.
Jetzt kehrte die gute Frau freudestrahlend nach Hause und sagte zu ihrem Mann: «Ich weiß jetzt, wie viel Fußwege es im Walde sind!»
«Wirklich, wie viel denn?»
«Ja, es sind 366», fügte sie hinzu und erzählte, wie es ihr ergangen war.
Am Abend jenes Tages, an dem die Frist vorüber war, begab sich der Bauer an die verabredete Stelle. Der Teufel war schon da und erwartete ihn, gewiss, sein Spiel gewonnen zu haben. Kaum sah er den Bauersmann kommen, so fragte er ihn: «Nun gut, wie viel Fußwege von Babilonia gibt es hier im Wald?»
«Ich habe lange darüber nachstudiert», erwiderte der andere, «und so und sovielmal gerechnet. Endlich habe ich herausgefunden, dass es 366 sein müssen, nämlich gerade so viele als Tage im Schaltjahr.»
Wie das der vornehme Herr, der aber niemand als der Satan war, vernahm, ließ er vor Zorn ein entsetzliches Geschrei los und verschwand, in Rauch und Flammen eingehüllt. Jetzt wusste der Bauer, mit wem er es zu tun gehabt hatte. Er kehrte voller Schrecken nach Hause zurück und erzählte der Frau seine Erlebnisse. Sie fürchteten, das Geld, das sie zum Teil schon gebraucht hatten, würde wieder zurückgefordert; aber es kam niemand, der es von ihnen wieder verlangte.
Von da an lebten der Mann und die Frau glücklich inmitten ihrer zahlreichen Familie.
Quelle; Walter Keller, Tessiner Sagen und Volksmärchen. Dieses Märchen wurde in Campestro von Silvio Savi 1928 erzählt.