Im Hinterthurgau, dort wo die junge Murg murmelnd und plätschernd an lispelnden Büschen und starren, schweigenden Tannen vorüberhüpft, da erheben sich aus dem grünen Talgrunde von Oberwangen zwei durch schön gerundete und charakteristische Form auffallende Hügel, die man als Drumlin bezeichnet, der Volksmund aber hat daraus "Trommelberg" gebildet. Die runde Kappe der vorderen Erhebung trägt die Martinskapelle. Dahin wallfahren alljährlich auf Martini die Leute aus nah und fern zu ihrem beliebten Kirchenpatron, weit ins Land hinaus grüssen die Kuppeltürmchen, und wenn die weissen Mauern und die klösterlichen Rundfenster des altehrwürdigen Gebäudes im Schein der scheidenden Abendsonne aufblitzen, dann wird dem Beschauer zur Selbstverständlichkeit, dass der fromme Sinn eines längst erloschenen Geschlechtes den stillen Ort für passend genug hielt, um dem Höchsten ein auserwähltes Plätzchen zu sein, allwo man für des Lebens Mühe und Sorgen Stärkung und Versöhnung holen mochte. Und wenn dann vom Türmchen herab das Glöcklein den Abendfrieden ins stille Tal läutet, "dann weckt fein zartes Schwingen die Vorzeit wunderbar", und wie eine halbverklungene Sage steigt die Erinnerung auf an die Entstehung der Kapelle, wie sie die verschiedenartig gestaltete Überlieferung zu uns gebracht hat, und wie sie der Grossvater seinem Enkel noch erzählt:
In alter, grauer Zeit erhob sich auf dem felsigen Grat des benachbarten Hunzenberges eine starke, trotzige Burg als Beherrscherin eines weitausgedehnten Gebietes mit zahlreichen Rechtsamen, Fällen und Gerichten. Der höchste Stolz des Burgherrn aber waren seine zwei mutigen und kriegstüchtigen Söhne. Für Vergrösserung deren Macht und Ansehen war der adelige Vater Tag und Nacht besorgt. Die ergiebigsten Jagdgründe und ausgedehntesten Jagdreviere gehörten bereits der Burg, worüber sich die zwei Söhne höchlich freuten; denn die Jagd war ihre liebste Beschäftigung, ihr Vergnügen, ihr Stolz, weil sie eine fortwährende Übung und Vorbereitung für den ernsten Waffengang darstellte. Eines Novembertags zogen die edlen Jünglinge zum Waidwerk hinaus; heiter war ihr Sinn und gross und kühn ihre Unternehmungslust. Auf einen quer über den Weg springenden Hasen achteten sie nicht; obschon das für manchen kein günstiges Omen gewesen wäre. Fröhlich klangen die Töne der Jagdhörner durch die Waldesräume, und hundertfach widerhallte der Tann vom Gebell der beutedurstigen Meute. Noch selten war die Ausbeute so reich gewesen, wie gerade an diesem Tag. Der wertvollste und vornehmste Teil aber sollte erst noch folgen. Die nimmermüden Jagdhunde trieben einen gewaltigen Hirsch vor sich her über die Wiesen der Murg zu. Es war ein Prachtstier mit starkem Geweih. Schon wollte es zum gewaltigen Sprunge ausholen, um über den Fluss zu gelangen, da brach es zusammen; denn zwei tödliche Pfeile hatten im gleichen Augenblick das flüchtige Tier erreicht. Die Dienerschaft sollte die gesamte Tagesbeute herrichten und heim transportieren. Die zwei adeligen Jäger aber wollten sich auf der Anhöhe nebenan noch durch einen kräftigen Imbiss stärken. Dabei wurde dem Wein ungewohnt eifrig zugesprochen, was die Zunge löste. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um den Hauptgewinn des Tages, um den erlegten Hirsch. Dabei erzählte ein jeder die Begebenheit so, als ob ihm allein die stolze Beute zu verdanken wäre. Der Wein tat das Seinige, und heftiger und heisser entbrannte der Bruderzwist, der in einen glühenden Streit um den Besitz der väterlichen Güter ausartete. Wutentbrannt zogen die Junker die Schwerter, und als die Herbstsonne unterging, da beleuchtete sie mit ihrem matten Scheine einen blutgetränkten Platz; denn der jüngere Bruder war unter den Streichen des älteren gefallen; blass und starr fand ihn seine Mutter auf dem Hügel. vom älteren hörte und sah man nie wieder eine Spur; allgemein hielt man dafür, er hätte das Kreuz genommen, um sich so seine Seelenruhe erkaufen zu können. Der unglückliche Vater sorgte angelegentlich für das Seelenheil seiner Söhne, indem er die meisten seiner Besitztümer, deren Rechte und Gerichte dem Gotteshaus Fischingen übergab. Auf der Unglücksstätte aber liess er zum besonderen Heil seiner Söhne die Martinskapelle gründen. Die Burg ist längst zerfallen; ihre Stätte kennet sie nicht mehr; denn
"Es kam ein Riesenweib: die Zeit.
Zerschlug am Tor das Wappenschild;
Es brach die Türme, die Mauern breit
Und schwang im Hause die Fackel wild."
Die Kapelle aber schaut noch frohgemut ins Tal hinab und ladet die frommen Beter zur stillen Andacht ein.
Schriftliche Mitteilung von Bosshard, Lehrer, in Arbon
Quelle: A. Oberholzer, Thurgauer Sagen, Frauenfeld 1912
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch