In seiner Novelle "Plautus im Nonnenkloster" lässt der Dichter den toskanischen Humanisten Poggio Bracciolini, der nach Konstanz zum Konzil gezogen, ein steinernes Bild beschreiben, das auf der Klosterwiese gestanden. Das Steinwerk bestand aus zwei durch ein Kreuz verbundenen Gestalten. Ein gewaltiges, dornengekröntes Weib trug das Kreuz mit kraftvollen Armen auf mächtiger Schulter und stürzte unter ihm zusammen. Neben dieser Riesin schob eine kleinere Gestalt (die Gottesmutter Maria), ein Krönlein aus dem lieblichen Haupte, ihre Schulter erbarmungsvoll unter die untragbare Last.
Auf die Bitte des Humanisten an ein Bauernmädchen, das vor der Einkleidung stand, berichtete dieses in einfacher Weise: Das Bild stelle eine alte Königin oder Herzogin Amalaswinta dar, die Stifterin dieses Klosters, welche zur Einkleidung schreiten wollte, das Haupt mit Dornen umwunden und die Schulter mit dem Kreuze beladen. "Es heisst", fährt das Mädchen fort, "sie war eine grosse Sünderin, mit dem Giftmord ihres Gatten beladen, aber so hochgestellt, dass die weltliche Gerechtigkeit ihr nichts anhaben durfte. Da rührte ihr Gott das Gewissen, und sie geriet in grosse Nöte, am Heil ihrer Seele verzweifelnd. Nach einer langen, schweren Busse hatte sie, ein Zeichen verlangend, dass ihr vergeben sei, dieses grosse schwere Kreuz zimmern lassen, das der stärkste Mann ihrer Zeit kaum zu heben vermochte. Auch sie brach darunter zusammen, hätte es nicht die Mutter Gottes in sichtbarer Gestalt barmherzig mitgetragen, die Schulter neben die ihrige schiebend. Seit die Mutter Gottes der Königin das Kreuz getragen, hilft sie es, ihr Kloster bevölkernd, seit urewigen Zeiten allen Novizen ohne Unterschied tragen!"
Nach C.F. Meyer: "Plautus im Nonnenkloster"
Quelle: A. Oberholzer, Thurgauer Sagen, Frauenfeld 1912
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch