Vor Zeiten wohnte in Bischofszell eine Witwe. Sie hatte zwei wackere Söhne, welche die Jagd leidenschaftlich liebten. Eines Morgens ritten sie zum Weidwerk aus. Ein Kahn führte sie ans andere Ufer der Thur, wo sie bis zum Abend nach Herzenslust jagten. Allein das Wetter war unstet. Ein Gewitter brach herein, und in Strömen ergoss sich der Regen hernieder. Die Thur schwoll mächtig an. Als es bereits dämmerte, machten sich die Jäger auf den Heimweg und erreichten noch vor Nacht das Ufer des Flusses.
Drüben stand die geängstigte Mutter und rief: "Kommt nicht herüber und wartet, bis der aufgeregte Strom sich beruhigt." Aber das Rauschen und Tosen des Wassers übertönte die Stimme der Mutter. Die mutigen Jünglinge bestiegen das schwankende Fahrzeug und ruderten mit der grössten Anstrengung durch die Fluten. Mit unbeschreiblicher Angst verfolgte die Mutter mit ihren Blicken das Boot, plötzlich sank sie ohnmächtig am Ufer nieder: Eine mächtige Woge hatte den Kahn umgestürzt und Mann und Ross im Wasser begraben. Welch ein Jammern und Wehklagen herrschte im Trauerhaus! Und wie gross war der Schmerz, als man nach drei Tagen der Witwe die entstellten Leichen ins Haus brachte!
Als aber die Zeit des grössten Schmerzes dahin war, fasste die Witwe einen edlen Entschluss. Noch im Trauergewand begab sie sich zum Amtmann des Bischofs, der dazumal in Bischofszell regierte. Sie erzählte ihm ihr Leid und sprach dann ruhig: "Der Thurstrom hat mir meine Lebensfreude geraubt. Ich kann nicht mehr für meine Söhne leben; darum möchte ich andere Menschen beglücken. Ich will eine steinerne Brücke über die Thur bauen lassen, damit kein Mutterherz mehr solche Trübsal erfahre wie ich. Noch eins möchte ich wünschen: die Brücke soll zollfrei sein, damit Reiche und Arme sie betreten können. Aber jeder, der hinübergeht, soll ein Vaterunser beten für meine Söhne, zu deren Andenken die Brücke gebaut wird." So sprach die hochherzige Frau zum Amtmann und legte Geld und Wertbriefe vor ihn hin. "Es wird dies wohl hinreichen zum Brückenbau", sprach sie. „Sollte noch etwas fehlen, so will ich's später hinzufügen."
Staunend stand der Amtmann da und entgegnete hocherfreut: "Edle Frau, Ihr tut ein herrliches Werk, woran Gott im Himmel sein Wohlgefallen haben wird. Ich will Baumeister
herbeirufen, und die Brücke soll nach dem besten Plane aufgebaut werden." Und so geschah es. Auf steinernen Pfeilern und Bogen ruht die krumme Brücke heute noch. Sie dient den Menschen in Handel und Verkehr, schützt sie vor Gefahr und verkündigt den wohltätigen Sinn der Frau von Hohenzorn.
Die Burg der Herren von Hohenzorn soll beim Weiler "Im Zorn", Gemeinde Gottshaus, gestanden haben.
Quelle: A. Oberholzer, Thurgauer Sagen, Frauenfeld 1912
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch