In einer Wirtsstube sassen einige Burschen beieinander und konnten sich mit Prahlen über ihren Mut nicht genug tun. Vor gar nichts, auch nicht vor dem Schrecklichsten, kamen sie zum Schluss, würden sie Angst empfinden. Ein Mann am Nebentisch, der alles mitangehört hatte, trat auf sie zu und fragte, ob einer von ihnen gewillt wäre, im Beinhaus auf dem Friedhof, allwo die Schädel der Toten aufbewahrt würden, einen Totenkopf zu holen. «Nichts leichter als das!» rief einer der Burschen aus und machte sich alsogleich auf den Weg. Als er in das Beinhaus kam, sah er im Scheine eines Ewigen Lichtes eine ganze Menge Totenschädel auf Gestellen links und rechts aufgereiht. Es war noch nicht Mitternacht, und Totenstille herrschte in dem kleinen Raum. Kurz entschlossen streckte er die Hand nach einem der Totenschädel aus und wollte ihn packen. »Halt!» rief plötzlich eine furchtbare Stimme, so dass der Bursche vor Schreck fast umfiel. «Das ist mein Schädel!» Er dachte an sein Versprechen und an den Hohn, der ihn empfangen würde, wenn er ohne Schädel ins Wirtshaus zurückkommen würde, und griff nach einen anderen Kopf. «Halt!» ertönte da eine noch viel schrecklichere Stimme. «Das ist mein Schädel!» Mehr mechanisch als bewusst, denn der Schrecken war ihm in die Glieder gefahren, griff der Busche nach einem dritten Schädel. «Halt!» schrillte es durch den Raum, dass die Gestelle zu krachen begannen und die Wände erzitterten. «Das ist mein Schädel!»
Da hielt es den jungen Burschen nicht mehr. Ausser sich vor Entsetzen und Grauen stürzte er zum Beinhaus hinaus, lief ins Wirtshaus zurück und langte totenblass, keines Lautes mehr mächtig, bei seinen wartenden Kameraden an. «Hast’s nicht recht angestellt», lachte der Mann, der ihn zu diesem Abenteuer aufgefordert hatte. «Hättest es machen sollen wie jene junge Magd. "Was brauchst du zwei Köpfe"», hatte sie geantwortet, als jemand ihr das "Halt! Das ist mein Schädel" entgegengeschmettert hatte, und war darauf unbehelligt mit dem Totenkopf zum Beinhaus hinausgegangen.»
Aus: Hedwig Correvon, Gespenstergeschichten aus Bern, Langnau 1919
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch