Die eiserne Türe des Rathauses, die wohl einstens einen Ausgang gegen die Schipfe zu schaffte, heute aber so fest geschlossen in ihren verrosteten Angeln ruht, dass keine noch so starke Hand sie öffnen kann, birgt ein seltsames Geheimnis. Des Nachts, wenn alles ruhig ist und man nur das Rauschen der vorüberziehenden Aarewogen vernimmt, öffnet sie sich leise, und aus ihr tritt eine Schar schwarzgekleideter Nonnen hervor. Zur selben Zeit hört man auf einmal einen Brunnen hell in die Nacht hinein plätschern. Eine Nische hat sich in der Mauer geöffnet, und in ihr gewahrt man einen Brunnen, dessen Röhre unentwegt, als würde sie dies schon von jeher tun, einen dicken Wasserstrahl in den tiefen, hochgefüllten Trog hineinspeit.
Und in der sternenklaren Nacht hebt nunmehr ein seltsames Schauspiel an. Ohne den Blick zu erheben, schreiten die Nonnen zum Brunnen hin, eine um die andere. Der Mondschein lässt die schleierumwallten Gestalten noch gespenstischer erscheinen. Bei dem Brunnentroge machen sie Halt. Mit glanzlosen Augen, ohne einen Laut über ihre Lippen zu bringen, starren sie in das Wasser hinein. Und was erscheint ihnen dort auf dem kalten Wassergrund, nur von den leichten Kreisen der Wasserfläche überzogen? Eine Menge kleiner, toter Kinderkörperchen, die die sündigen Nonnen in frevler Tat im Brunnen versenkt hatten.
Es schlägt zwölf Uhr. Eine Fledermaus schreckt in dem alten Gebälk der Nische auf, stösst mit dem Kopf an die Scheiben der Laterne, die den Raum mit gespenstischem Licht erhellt. Da entsteht Verwirrung unter den Nonnen. In schreckensvoller Hast eilen sie der Pforte zu, die sie eben herausgelassen. Eine Sekunde - und ihr Dunkel hat sie wohltätig wieder ausgenommen.
Aus: Hedwig Correvon, Gespenstergeschichten aus Bern, Langnau 1919
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch