Es gibt ein Haus in der inneren Stadt, an dem die Leute nur mit scheuen Blicken vorübergehen. Einst war es der Wohnsitz eines Junkers, schon lange aber ist es zu einem Miethaus hinuntergesunken. Doch das Bewohnen der Räume, die stets noch herrschaftliches Gepräge tragen, wird jedem zur Pein. Was geht drin vor? Man spricht nicht gern davon. Des Nachts kommt es hervor und streicht durch die Räume, und wo es geht, da zieht ein kalter Hauch durch die Luft; und wenn jemand angstvoll im Bett aufsitzt, dann streicht es wie eine kalte Hand über ihn weg. Und durch das ganze Haus tönt ein leises Klagen. Man hat sich ihm schon entgegengestellt, aber als etwas Ungreifbares, Wesenloses strich es über jeden weg, und seine Klagen erschollen nur noch lauter.
Und als man einst Pferde in den Stall, der sich in einem Teil des Hauses befand, stellte, da rissen sich die von der Koppel los und waren nicht mehr zu beruhigen. War es die schwarze Frau, die man in dieses Haus gehen sieht und die man im Mondenschein ganz deutlich erkennen kann? Sie trägt das Kleid einer Edeldame aus dem vorletzten Jahrhundert. Gepuderte Locken fallen aus hochgestecktem Knoten auf die Schultern herab. Unter ihrem Kleidersaum aber sind keine Füsse sichtbar. Sie kommt, blassen Angesichtes, mit geschlossenen Augen. Geräuschlos öffnet sich das Tor vor ihr; geräuschlos tritt sie ein. Ein Bürger warf ihr einst ein Scheit Holz entgegen; da erstarrte ihm plötzlich der Arm, und er konnte ihn lange nicht mehr brauchen.
Wer ist sie? Ihr Stamm, ihr Name sind unbekannt.
Aber dass sie die eheliche Treue gebrochen und, von ihrem Banne noch nicht erlöst, immer wieder an den Ort ihres Vergehens zurückkehren muss, das weiss jedermann.
Aus: Hedwig Correvon, Gespenstergeschichten aus Bern, Langnau 1919
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch