Von Zeit zu Zeit, besonders in den heiligen Zeiten oder auch, wenn das Wetter ändert, hören die Bewohner der inneren Stadt das Brüllen eines Tieres durch die nächtliche Stille - ein grauenvolles, markerschütterndes Brüllen, das in ein langgezogenes, jammerndes Röcheln übergeht und sich den Häuserreihen entlang zieht, als wollte es das Entsetzen und das Grauen eines jeden, der zu dieser Stunde im weichen Pfühl liegt oder im behaglichen Zimmer sitzt, aufpeitschen und ihn so an eine Unterlassungssünde mahnen. «Das Schaltier geht um», heisst es dann. «Ist er denn noch immer nicht erlöst?»
Nein, er ist noch immer nicht erlöst, der ruchlose Metzgerbursche, der ein ihm zum Schlachten übergebenes Kalb langsam zu Tode marterte, indem er ihm bei lebendigem Leibe die Haut abzog. Zur Strafe dafür musste er die Gestalt des armen Tieres annehmen, in der er nun seit Jahrhunderten nachts die Stadt durchstreift. Von der alten Schal aus rennt er durch die Metzgergasse hinauf in die obere Stadt bis zur Bundesgasse, von wo aus er den Weg wiederum durch die innere Stadt nimmt, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren. In seiner tollen Hast, die ihn weder links noch rechts schauen, ihn alle Hindernisse überrennen lässt, macht er den Eindruck eines körperlich masslos Gepeinigten. Leute, die in heiligen Zeiten geboren sind, sehen das Gespenst zuweilen. Und sie sagen, dass es mit jedem Mal ungeheuerlichere, schrecken erregendere Formen annehme und sein Geschrei schon lange nicht mehr dem eines Kalbes gleich töne.
Aus: Hedwig Correvon, Gespenstergeschichten aus Bern, Langnau 1919
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch