Ein Handwerksbursche war den ganzen Tag gelaufen, ohne die Stadt vor Anbruch der Nacht erreichen zu können. Er suchte deshalb in einer kleinen Kapelle ausserhalb des Stadtringes einen Unterschlupf und war froh, die Nacht unter einem Dach verbringen zu können. Alles war still und ruhig, kein Mensch um den Weg. Sogar die Fledermäuse schienen sich nicht aus ihren Schlupfwinkeln bewegen zu wollen. Nur auf dem Altar brannte ruhig ein kleines Licht. Der junge Mann schob seinen Wandersack unter den Kopf und schlief bald fest ein. Da schreckte er plötzlich auf. Eine laute Stimme hallte durch das Gewölbe, erfüllte den Raum, dass die Wände auseinander zu bersten drohten und das Licht auf dem Altar unruhig zu flackern begann. «Ist jemand hier?» rief die Stimme, und dann zum zweiten- und dritten Mal: «Ist jemand hier?» Der Bursche wollte enteilen, doch etwas hielt ihn in der Kapelle zurück. Voller Scheu blickte er nach der Richtung, von der die Stimme kam, und da sah er auf dem Altar ein aufgeschlagenes Buch, das vorher noch nicht dagelegen hatte. Wie er genauer hinsah, konnte er eine Knochenhand erkennen, deren Zeigefinger auf einer Zeile der Buchseite lag. Und aus dem Dämmer hob sich nach und nach eine dunkle Priestergestalt hervor, deren Antlitz er nicht erschauen konnte. «Ich bin hier», sagte der Bursche schüchtern, «ich habe hier ein wenig geschlafen», und wollte sein Bündelchen vom Boden aufheben.
«Kannst du eine Messe lesen?» tönte es in ganz verändertem Tone vom Altar her. «Komm nur her, ich tue dir nichts.» Der Bursche ging zagend zum Altar vor und las aus dem Buche eine Messe, so gut er es eben konnte. Lautlos blieb der Priester an seiner Seite stehen. Von Zeit zu Zeit hob er die knöcherne Hand, um das Zeichen des Kreuzes zu schlagen. Als der Bursche geendet hatte, sagte er mit bittender Stimme: «Bespritze mir die Hand mit Weihwasser!» Auch das tat der junge Mann. Da hob ein langer, tiefer Seufzer die Brust des sonderbaren Priesters, und wie zum Danke legte er die Hand auf die Schulter des Handwerksburschen. «Jetzt bin ich endlich erlöst», sagte er mit tiefer Stimme. «Hundert Jahre habe ich an diesen Ort zurückkommen müssen und habe im Grabe keine Ruhe gefunden. Denn einst ist eine arme Frau zu mir gekommen und hat mich gebeten, für ihr Kind eine Messe zu lesen. Ich habe dies verweigert, weil sie kein Geld bei sich hatte. Da ist sie nach Hause gegangen und hat die letzten sechzig Rappen, die sie noch hatte, geholt und sie mir übergeben wollen. Ich aber habe zu ihr gesagt und sie dabei ausgelacht: «Geh und schau, ob du einen andern findest, der um dieses Geld eine Messe liest!» Und seither musste ich jede Nacht selber jemand suchen, der dies, und zwar ohne Lohn, tut.
Aus: Hedwig Correvon, Gespenstergeschichten aus Bern, Langnau 1919
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch