In stillen Nächten, wenn der helle Glanz des Mondes die übereinandergeschobenen Dächer der alten Stadt versilbert, der Schatten der Nydeggbrücke sich wie ein dunkles Band über die glitzernde Aareflut legt, hört man zu gewissen Zeiten einen verzweifelten Schrei: «So helf uns Gott!» Dann einen Fall, dumpf und schwer, und ein Aufspritzen des Wassers. Und hierauf wird es stille.
Mutter und Tochter sind es, die seit bereits hundert Jahren in dem aareumflossenen Friedhof des Dörfchens Bremgarten ruhen und die es immer und immer wieder in den selbstgesuchten Tod treibt.
Sie waren einst vielbewunderte Schönheiten. Wenn sie auf der Promenade auf der Plattform erschienen, dann war jedermann geblendet von ihrem Äusseren und ihrem aristokratischen Benehmen. Woher sie kamen, wusste niemand recht; die einen sagten aus England, die andern aus irgend einem andern nordischen Land.
Zusammen mit ihrem Stiefvater und Stiefgrossvater wohnten sie in dem grossen, von einem Garten umgebenen Gut. Im Spiel, mit Weibern hatte der sein Vermögen zerrüttet. Da kam er auf den Einfall, in den hohen schönen Räumen selber eine Spielhölle einzurichten, die ihm wieder einbringen sollte, was er verloren, und die ihm helfen würde, sich an der Menschheit zu rächen. Hiezu aber brauchte er reiche Leute, junge Leute, die des Lebens Geheimnisse mit vollen Zügen zu geniessen bereit waren. Die sollten ihm seine beiden Frauen verschaffen.
Von dem Garten des Hauses aus, der damals bis zur Aare führte, stürzten sich beide Frauen in die Wellen. Die trugen sie zur Stadt hinaus, bis nach Bremgarten, wo mitleidige Leute die beiden Leichen fanden. Den Stiefvater fand man tags darauf erschossen in seinem Spielsalon vor. Die Gäste waren in alle Windrichtungen verstoben.
«So helf uns Gott!» hatten die Frauen ausgerufen, als sie sich in die Fluten stürzten. «So helf uns Gott!» hört man immer noch in den stillen Nächten, wenn der bleiche Mondschein über den Aarewellen glitzert, durch die Winkel der alten Gassen streicht.
Aus: Hedwig Correvon, Gespenstergeschichten aus Bern, Langnau 1919
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch