Alle, die ein Leben der Lasterhaftigkeit führten, sind verdammt, auf die Stätte, an welcher sie vor ihrem Tode wirkten, zurückzukehren.
Mit schleppenden Schritten schreitet eine Frau über die hintere Treppe eines Hauses, um in dem Zimmer, in dem sie wohnte, zu verschwinden. Ihre seidenen Schleppkleider mit den vielen Rüschen und Falbeln knistern, und der Mondenstrahl übergiesst ihr tizianrotes Haar mit einem leuchtenden Schein. Nicht viele vermochten einen Blick in ihr Antlitz zu tun; die aber, denen dies gelang, sind ergriffen von dem Ausdruck der Hoffnungslosigkeit, den das ruhelose Wandern in die Züge der sündigen Frau geprägt.
Von Zeit zu Zeit hebt auch in einem Hause an der Badgasse ein Raunen und Zischen an. Dann öffnen sich die Türen der Küchen und der Zimmer, in denen jedes der Mädchen ein Einzeldasein fristete. In weissen Schleiern, in weissen, wallenden Gewändern huschen alle herbei, fassen sich bei den Händen. Und nun beginnt der Reigen durch die weiten, hohen Korridore, über die breiten Treppen, über die Galerien, die den Hof umsäumen, von einem Stockwerk ins andere, hinauf und hinunter. Es gellt, es jauchzt, es schreit - da, plötzlich ein Pfiff, und verschwunden ist der Geisterspuk.
In andern Häusern, da Verstossene der menschlichen Gesellschaft ebenfalls ihr Wesen trieben, erscheint zeitweilig ein kleines Mädchen in langem, weissem Hemdchen, das ihm bis über die Füsschen fällt. Leise, sachte geht es die Treppe hinan, ohne eine der Stufen zu berühren. Wie ein Lüftchen verweht es, wenn ihr’s zu greifen trachtet. Anderswo wiederum schläft von Zeit zu Zeit ein Mann auf einem Treppenabsatz. «Steht auf!» herrschte ihn einer an und stiess ihn mit dem Fusse. Und als der Schlafende sich nicht rührte, zündete er ein Zündholz an und wollte ihm ins Gesicht leuchten. Aber was war das? Dem Mann fehlte ja der Kopf! «Scht», machte es plötzlich, wie wenn ein Lichtlein verlöschen würde. Die Treppe hinauf wand sich ein weisses Wölkchen. Die Stelle aber, auf der der Mann gelegen, war leer.
Aus: Hedwig Correvon, Gespenstergeschichten aus Bern, Langnau 1919
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch