Eines Abends kam, müde vom langen Wandern, ein junger Handwerksbursche in einen Gasthof der untern Stadt. Er hatte nur einige Rappen Geld, und deshalb war ihm bange, es könnte ihm das Nachtquartier verweigert werden. Der Besitzer aber wies ihm im Gegenteil ein elegantes Zimmer an. Schwere Portieren verhängten die Türen; hohe, weich gepolsterte Sessel umstanden einen grossen runden Tisch. Das Staunen des armen Burschen kannte keine Grenzen. Hier sollte er wirklich übernachten?
Er war in tiefem Schlaf, da wachte er plötzlich auf. Ein furchtbares Getöse hatte angehoben. Es kam die Treppe herauf, polternd, an jedem Tritte stolpernd. Auf flog die Tür: unter dem Rahmen erschien ein alter Herr mit einer mächtigen Zopfperücke, der unterm Arm eine grosse Mappe trug. Und hinter ihm tauchte eine ganze Schar gleichgekleideter Männer auf. Sie traten gewichtig ins Zimmer ein, schritten auf ihre Plätze zu. Aber erst als der, welcher sich oben an den Tisch begeben, Platz genommen hatte, liessen sich die andern auf die Stühle nieder und legten die Mappen vor sich hin. Und jetzt ging’s an ein Blättern und Herumstöbern in den Akten. Der Handwerksbursche blickte verstohlen hin: Statt der Köpfe hatten alle Totenschädel, und die grossen runden Hornbrillen sassen vor leeren Augenhöh- len.
Der hohe Kragen, die breite schwarze Krawatte verhüllten einen knöchernen Hals, und knöchern, fleischlos waren auch die Finger, die jetzt aufgeregt über die Blätter fuhren und stets an derselben Stelle haften blieben. Da, klatsch, warf der oberste am Tisch die Mappe zu und fuhr von seinem Sitze auf. Unter den andern entstand ein Flüstern und Raunen. Einer warf mit Dröhnen seine Mappe auf den Tisch. Das war das Zeichen zu einem furchtbaren Sturm. Dürre Arme fuchtelten durch die Luft, schlugen die umgeworfenen Stühle dröhnend auf den Boden. Alles drängte zur Tür, und kollernd und polternd stürzte die Gesellschaft die Treppe hinunter.
Der Handwerksbursche, entsetzt, atmete auf: Endlich war der grässliche Geisterspuk fertig. Da hörte er es von neuem die Treppe heraufpoltern. Er sprang an die Tür und stiess den Riegel vor. Was war das? Die Tür sprang dennoch auf. Und die Schar erschien von neuem. Sie stürzte sich auf ihn, warf ihn ins Bett. Einer der Herren suchte die Decke über sein Gesicht zu ziehen, ein anderer riss ihn am Arm zum Bett hinaus. Eins schlug die Stunde. Da flohen sie alle zur Tür hinaus. Ruhe, Stille, als wäre nichts geschehen.
In Schweiss gebadet, erhob sich der Handwerksbursche und wollte diesem entsetzlichen Ort entfliehen. Die Türen des Hauses aber waren verschlossen. Er weckte den Wirt. Der schaute ihn mit unsichern Blicken an und öffnete ihm, ohne ihm etwas für das Nachtlager zu verlangen.
«Und du lebst noch?» riefen die Leute aus, als der Bursche erzählte, wo er die Nacht verbracht. «Schon lange sucht der Wirt ein Opfer, um das Haus von den Geistern zu befreien. Wie lange schon ist er des Disputes satt, der die Advokaten schon bei Lebzeiten auseinanderbrachte und sie sogar aus dem Grabe treibt - heute noch, nach zweihundert Jahren!»
Aus: Hedwig Correvon, Gespenstergeschichten aus Bern, Langnau 1919
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch