Noch heute geht es im Rathaus um. Wenn der Zeitendrang die Schicksale der Stadt zu berühren droht, dann hält eine zweispännige, reichvergoldete Karosse vor der Treppe des Rathauses an. Ein Diener springt vom Bock und reisst den
Wagenschlag auf. Ein Herr in absonderlichem Gewand entsteigt dem Wagen und schreitet langsam, bei jedem Tritte innehaltend, die Treppe hinan. Auf der Mitte angelangt, steht er still. Da fängt ein weisser, feiner Dunst ihn zu umhüllen an; er wird dichter und dichter, windet sich in die Höhe. Und auf einmal ist die Gestalt verschwunden. Auch von der Karosse und ihrem Diener sieht man von diesem Augenblick an nichts mehr.
Zeitweilig steigt auch ein Zug ernster, schwarzgekleideter Herren die Rathaustreppe von beiden Seiten hinan, um lautlos im Hausinnern zu verschwinden. Dass sie wieder herausgekommen wären, hat noch niemand bemerkt.
Durch die Gänge sieht man des Abends einen Mann schreiten, und wenn man genauer hinblickt, so kann man erkennen, dass er unterm Arme seinen eigenen Kopf trägt. Ist es einer der einstmals auf der Kirchgasse Hingerichteten?
Vielen, die zu gewissen Zeiten durch einen Korridor gehen, schwillt der Kopf hoch an; ein Fieberschauer beginnt sie zu durchrütteln, der sie noch acht Tage besessen hält. Bargen die Kammern, die auf den Korridor ausmünden, einstmals Folter- und Richtwerkzeuge?
In einem Zimmer, das früher zu einer Abwartswohnung gehörte, bricht zeitweilig ein Lärmen, Schreien, Schimpfen aus, dass man kaum sein eigenes Wort versteht, in abgerissenen Worten, deren Sinn niemandem klar wird, Scheltworte, deren Sinn man nicht begreift, und dazwischen lautes Weinen und ungeduldiges Stampfen. «Verführen die Kinder wieder einen Lärm!» sagte dann die Abwartsfrau und ging zu dem grossen Ofen hin, von dem her das Lärmen tönte. «Wollt ihr sofort stille sein!» rief sie hinter den Ofen. Und es wurde auch still.
Kinder mit grossen Köpfen und langen Gliedern an einem winzigen Körper seien es, wusste sie zu erzählen. Von Zeit zu Zeit würden sie sich ihr zeigen. Friedliche, zutrauliche Gespenster seien es sonst, doch von Zeit zu Zeit würden sie in Zank und Streit geraten - gerade wie ihre eigenen Kinder.
Aus: Hedwig Correvon, Gespenstergeschichten aus Bern, Langnau 1919
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch