Am Waldrande beim Könizwald steht ein einsamer Gartenpavillon, dessen Fensterläden stets verschlossen sind. Ängstlich wird die Ruhe um diesen Ort gehütet, denn man weiss, dass der General Lentulus in diesem Hause seinen letzten Schlaf schläft. Nur wenn die Geschicke des Landes die Leute mit Sorge erfüllen, wenn man nicht mehr weiss, nach welcher Richtung das Staatsschiff zu lenken sei, geht man zum General Lentulus und befragt ihn um Rat. «General Lentulus, General Lentulus», muss man dann rufen, «steht die Schweiz in Gefahr?
Als der Weltkrieg wieder einmal seine Wellen in die Schweiz hinüberzuschleudern drohte, machten sich einige beherzte Männer auf, um den General Lentulus zu befragen. «General Lentulus», rief einer von ihnen, nachdem sie feierlich ums Haus Aufstellung genommen hatten, «General Lentulus!» Und so noch einige Male. Lange hörte man nichts, und die Männer wollten schon wieder unverrichteter Dinge abziehen. Da vernahm man von innen ein langgezogenes Gähnen. Dem folgte das Rücken von Stühlen, das Schlurfen von Schritten, und gleich darauf wurden die Fensterläden aufgerissen. Im Fenster erschien eine hohe Gestalt, die aber niemand anzuschauen wagte. «General Lentulus», getraute sich endlich einer der Männer zu fragen, «steht die Schweiz in Gefahr?» «Nein», tönte da die Antwort mit grimmiger Stimme. «Noch nicht. Lasst mich weiterschlafen.» Dann zog die Gestalt die Läden wieder zu und liess die Männer draussen stehen.
Beim Sonderbundskrieg war man auch gegangen, den General Lentulus zu befragen, seither aber nicht mehr bis an dem genannten Tag.
Aus: Hedwig Correvon, Gespenstergeschichten aus Bern, Langnau 1919
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch