Das Rottal ist ein schauerliches Gletschertal am Nordhang der Jungfrau. Wer von der Stufsteinalp hinaufschaut, ahnt nicht, dass dort oben sich ein Tal öffnet, das sich stundenlang hinzieht. Einst war hier eine der fruchtbarsten Alpen und vor nicht allzulanger Zeit führte von hier aus auch ein Pass in das jenseits gelegene Wallis. Doch lastete einst die Willkür grausamer Herren auf diesem Tal. Keiner war seines Eigentums sicher, und selbst die Frauen und Jungfrauen entgingen nicht den Nachstellungen dieser Männer.
Einst verfolgte einer der zuchtlosesten Rottalherren in seinem wilden Gelüst ein junges Hirtenmädchen. Da kam plötzlich im jähen Sprung ein schwarzer Bock dem fliehenden Mädchen zu Hilfe und stiess den Verfolger über die steile Felswand in den Abgrund.
Gleichzeitig aber erzitterten ringsum die Firnen und Eislasten rissen sich los und verwandelten das blühende und fruchtbare Tal in eine ausgestorbene Gletschereinöde.
Heute wird das Tal von Menschen selten betreten. Es ist der Aufenthaltsort der Geister jener Verbrecher und Bösewichte, welche ihre Macht zur Unterdrückung des Nächsten und zur Befriedigung ihrer zügellosen Leidenschafen missbraucht haben. Sie werden von einem grossen Bock hin und hergetrieben und ihr Stöhnen dringt in dumpfem Ton weit durch das Land. Hört man diese Töne, so kann man sicher sein, dass trübes Wetter im Anzug ist. Das Volk aber sagt: «Die grauen Talherren kommen», «oder der Bock exerziert mit denRottalherren.»
Aus: P. Keckeis, M. Waibel, Sagen der Schweiz. Bern, Zürich 1986
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch