Lueggi, Lueggi, du gueti Chue

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Manche sagen, es sei im Anfang des vierzehnten, andere, es sei zwei oder drei Jahrhunderte früher gewesen, als eine Horde Unterwaldner an den Hängen des Rothorns herniederstieg und auf dem Planalpstafel Mittlesten die Brienzer Älpler überfiel.

‏In den Hütten hatten die Älpler gerade den Käse aus dem Kessi genommen und säuberlich in die Vätterren gedrückt, als plötzlich die Türen aufknarrten und fremde Kerle hereindrängten. Die schlugen, gottslästerlich fluchend, alle kurzerhand nieder oder stürzten sie in die Käskessi, in die noch heisse Schotte, kopfvorab. So rasch und unerwartet kam der Überfall, dass alle Gegenwehr zu spät kam.

‏Nur zwei Sennen wurden von den Unholden verschont, Vater und Sohn, sie sollten die Unterwaldner im Nebel den Weg über Eisee in ihre Berge zurückführen. Als sich der Alte aber weigerte, den schändlichen Dienst zu tun, stachen sie ihm mit einem glühenden Scheit die Augen aus und hängten ihn an einen Dachrafen. Dem eingeschüchterten Buben aber banden sie die Hosenstösse unten zu und füllten diese mit Steinen, dass er nicht entlaufe.

‏Vorab dem Zug schritt mühsam der Bub. Die Last an den Beinen wog schwer. Dazu plagte ihn das Entsetzen über das eben Erlebte und die Angst vor dem, was ihm noch bevorstand.

‏Und doch glühte im Innersten noch ein geringes Fünkchen Hoffnung. Wenn nur Leute aus dem Dorf herauf kämen und den Teufeln die Beute wieder abjagten! Aber die Unterwaldner hatten den Kühen die Glocken abgehängt.

‏Da bemerkte er seine liebste Kuh, die aschgraue Lueggi. Sie trabte gerade hinter ihm her. Wenn er ihr chettete und sie beim Namen rief, musste man das nicht bis hinunter ins Gresgi und in der Talkrümmung, im Blattmahd hören?

‏Und nun sang der Bub in einem fort und so laut er mochte:

‏«Lueggi, Lueggi, gueti Chue,

‏Ertz muesst gägen Underwalden zue!»

‏Und damit er möglichst lange herwärts des Rothorns bleiben könne, führte er die Unterwaldner, um sie im Weg zu täuschen, die langen Kehre «in den Wengen» bergauf bis auf den Grat.

‏Während Räuber und Vieh in den stotzigen Hängen im Nebel irrten, war an Mittlesten ein junger Älpler, der eine böse Messerwunde in den Bauch bekommen hatte, wieder zu sich gekommen. Er rannte auf Tod und Leben auf die Mühlebachfluh zum «Buechelli» und rief von hier aus durch ein Volli nach Brienz hinunter um Hilfe. Im Dorfe ging die Messe zu Ende und die Kirchgänger verliessen die Kirche. Kalt lief es den Leutenüber den Rücken, als sie die schauerlichen Hilferufe vernahmen. Ein Mädchen erkannte den Rufer an der Stimme.

‏Im Handumdrehen war ein bewaffneter Trupp in der Alpgasse beisammen.

‏Unterdessen war dem Hüterbuben die List gelungen, die Unterwaldner wieder in die Nähe der Hütten von Mittlesten zu bringen. Da tauchten aus dem Nebel bewaffnete Gestalten auf und stürzten sich auf die Viehräuber. Ein Hauen und Stechen hub an. In erbittertem Kampfe machten die Brienzer ihre Drohung wahr, mit den Feinden gründlich abzurechnen. Keiner sollte mehr lebend über Eisee in die Heimat entkommen!

‏Bei der Heimkehr fand man den jungen Älpler, der von der Mühlebachfluh um Hilfe gerufen hatte, beim «Buechelli» tot.

‏Die Hütte, in der der Ätti des Buben so grausam hingemordet worden war, hiess von dieser Zeit an die «Mordstye» und der Ort an der Twärrenegg, wo der letzte Unterwaldner sein Leben lassen musste, der «Mordboden».

 

Aus: P. Keckeis, M. Waibel, Sagen der Schweiz. Bern, Zürich 198.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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