Der Ritter Wolf von Ringgenberg war ein wilder, roher Herr, hartherzig und grausam. Das geringste Vergehen seiner Untertanen büsste er an Leib und Leben. Drum hiessen ihn die Landleute den Werwolf. Wie ein Wolf in Menschengestalt war er zu schauen: Ungeschlachten Leibes war er wie ein Riese, und wenn er im Zorn den zündfeuerroten Bart schüttelte und seine Augen funkelten, war's, als flackerte Feuer um ihn. Selten oder nie kam er aus dem Harnisch, und gejagt musste sein, den lieben langen Tag mit Hörnerschall und Hundehatz durch Wälder und Felder.
Einst, als er auf seinem schwarzen Hengst auf dem andern Ufer des Brienzersees nach seinem Schloss Iseltwald zusprengte, da stiess er auf das Hüttlein eines Fischers. Eben trat des Fischers junges Töchterlein aus der Türe, ein liebliches Kind mit holden Augen. «He du», rief der Ritter im Vorbeireiten dem Fischer zu, «komm morgen mit dem Mädchen auf meine Burg nach Ringgenberg!» Schweren Herzens bestieg am andern Tage der Fischer mit seinem Kinde das Boot und ruderte hinüber. Und es kam, wie er fürchtete: der Werwolf wollte das Mädchen bei sich auf dem Schloss behalten. Der Vater weigerte sich. Der Zwingherr drohte im Zorn mit Gewalt. Da, ehe jener sich versah, liefen Vater und Tochter um ihr Leben ans Ufer hinunter. Eben stiessen sie ab, da zischte ein Pfeil durch die Luft und durchbohrte dem Mädchen das Herz. Der Vater führte die Leiche seines Kindes heim, barg sie im Grabe, und ohne ein Wort der Klage verliess er die Hütte, Netz und Schiff und wurde nicht mehr gesehen. Viele Jahre waren seither ins Land gegangen. Der Werwolf war alt und grau geworden und wütete grimmiger denn je gegen das arme Volk. So gross war der Hass im Lande gegen ihn, dass er seines Lebens nirgends mehr sicher war. Da beschloss er, eine feste Burg zu erbauen, um sein Alter zum Trotz in Sicherheit zu verbringen. Alles Volk musste fronen, und weitherum wurden die besten Werkleute aufgeboten. Lange schon arbeitete man an dem Bau, und die Leute seufzten unter den Lasten, die sie zu ihrer eigenen Bedrückung zu tragen hatten. Da kam eines Tages wie von ungefähr ein fremder Greis und bot dem Zwingherrn seine Dienste an. Er komme von Rom und sei ein Meister der Baukunst. «Gut, Alter, so zeige, was du kannst», sagte der Werwolf und reichte ihm einen mächtigen Hammer dar. Jener nahm den Hammer und tat damit einen solchen Schlag auf die Mauer, dass sie weithin dröhnte und die Steinsplitter nach allen Seiten stoben. «Und nun, Herr», sagte der Fremde «wie soll die Burg den heissen?» «Schadenburg, wer's merken will! » rief der Werwolf. Da richtete sich der Fremde hoch auf und mit beiden Händen schwang er den Hammer über seinem Haupt. «Nein, Freiburg, wer's merken will! » rief er. Mit zerschmettertem Haupt brach der Werwolf zusammen. Der Alte aber schritt von dannen, keiner legte Hand an ihn. Niemand weiss, wohin er gegangen.
Aus: P. Keckeis, M. Waibel, Sagen der Schweiz. Bern, Zürich 1986.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch