Einst hausten die Freiherren von Brandis auf ihrer Burg zu Lützelflüh. Einer dieser Zwingherren behandelte seine Untertanen schlimmer als das Vieh. Wer sich widersetzte, verschwand im dunklen Burgverlies. Es war im Frühling. Der Schnee auf dem Hohgant schmolz und das Wasser stieg in der Emme. Mit Sorge sah es der Müller von Lützelflüh, weil er wegen häufiger Fronarbeit die Schwellen an der Emme noch nicht hatte ausbessern können. Wenn die Wasserflut eintrat, war es um die Mühle geschehen. Er fasste sich ein Herz, ging zur Burg und bat den Herrn, ihn freizugeben, damit er die Schwellen erneuern könne. Doch auf dem Schloss machte man sich eben zur Jagd bereit, und der Müller musste als Treiber mitgehen.
Auf der Jagd stürzten sich unversehens zwei Bären auf den Herrn von Brandis und nur die Unerschrockenheit und die Kraft des Müllers erretteten ihn vor dem sicheren Tod.
Dafür hatte der Freiherr kein Wort des Dankes. Im Gegenteil. Er hiess den Müller mit den anderen Bauern, den Bären ins Schloss zu schaffen. Von der Burg aus sah der Müller, wie die Fluten der Emme wild ins Land einbrachen. Von der Mühle war nichts mehr zu sehen. Da eilte er hinab zu Frau und Kind. Doch das Jüngste fehlte. Da sprengte schon der Freiherr auf seinem Hengst heran und fluchte, dass der Müller sich erfrecht hatte, wegzulaufen.
Der Müller hob die geballte Faust, nannte den Herrn einen Kindsmörder und des Teufels Bastard. Da schmetterte der Freiherr seine Axt auf den Kopf des Müllers und mit zertrümmertem Schädel stürzte dieser in die Flut. Da tat die Müllerin einen furchtbaren Fluch: Nie solle der Freiherr Ruhe finden im Grab, und bei Wassernot solle er verdammt sein, selbst zu schwellen, auf immer und ewig. Dann stürzte sie sich mit ihren Kindern in die hochgehende Emme.
Dieser Fluch zehrte an der Lebenskraft des Burgherrn. Noch ehe ein Jahr um war, senkte man den entseelten Leib des Freiherrn in die Erde.
Und seither sieht man bei Wassernot den Geist des Herrn von Brandis an der Emme auf und ab gehen, Pfähle einschlagen und Dämme aufschütten. Doch an der Stelle, wo er den Müller erschlagen hat, muss er gebannt stehen, bis der erste Hahnenschrei ertönt.
Aus: P. Keckeis, M. Waibel, Sagen der Schweiz. Bern, Zürich 1986.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch