Der Esel des Steuereintreibers

Land: Schweiz
Kategorie: Schwank

Am Ende eines kleinen Tales in der Nähe der Sorne stand eine Mühle. Dort wohnte der Müller mit seiner Frau und seiner Tochter Claudine. Die Müllerin kümmerte sich um Haus und Herd, und Claudine half ihrem Vater in der Mühle.

In einem Nachbardorf wohnte ein junger Mann, Charles von Sur-Le-Mont, der von Zeit zu Zeit das Korn vom Hof seiner Eltern zur Mühle brachte. Ihm gefiel die schöne Claudine sehr, und er machte ihr den Hof. Als Claudine den jungen Mann schliesslich erhörte, beschloss er, als Müllergehilfe in der Mühle anzuwerben, damit er seine Liebste mehr als nur einmal im Monat sehen konnte. Der Müller mochte den jungen Mann und er nahm ihn gerne als seinen Gesellen auf.

Charles zog also in die Mühle, arbeitete fleissig und scherzte mit seiner Claudine, die er nun jeden Tag sehen konnte.

Doch eines Nachts er hörte er Stimmen, die sich laut miteinander stritten. Er stand auf und sah durch einen Spalt in der Tür, wie die Müllerin den Schrank öffnete, einen Topf mit Salbe herausnahm und sich und ihre Tochter, die sich vergeblich dagegen wehrte, damit einrieb. Dann nahmen beide einen Besen und flogen durch den Schornstein in die Nacht hinaus.

Als Charles sich von seinem Schrecken erholt hatte, betrat er das Zimmer und fand den Topf mit der Salbe. Wenn er seine Claudine befreien wollte, musste er schnell den Frauen hinterher. Er schmierte sich mit der Salbe ein und spürte bald eine unsichtbare Kraft, die ihn zum Besen trieb. Kaum hatte er einen in der Hand, flog er schon damit durch den Kamin in die Nacht hinaus. Er flog über das schlafende Tal, stieg höher und höher, fast bis zu den Sternen, als er plötzlich zur Erde hinabgezogen wurde.

Unter ihm, auf einer Lichtung, sah er Hexen, die mit dem Teufel den Hexensabbat feierten. Er landete mitten unter ihnen. Als sie ihn entdeckten, ging ein Zeter und Mordio los: «Er hat unser geheimes Treffen gestört!», riefen sie, «wir müssen ihn töten!» Zu Tode erschrocken blickte der junge Mann von einer Hexe zur anderen, bis er endlich Claudine entdeckte. Die senkte den Kopf und schwieg. Schliesslich trat sie vor und bat: «Lasst ihn leben! Er ist unschuldig, denn er ist mir aus Liebe gefolgt.»

«Ein Esel ist er und ein Esel soll er werden!» rief der bockfüssige Teufel. Augenblicklich wurde Charles in einen Esel verwandelt, und der Hexensabbat verschwand vor seinen Augen.

Am anderen Morgen kam ein Holzfäller auf die Lichtung, fand den Esel, nahm ihn mit und verkaufte ihn im nächsten Ort an den Steuereintreiber des Landvogtes.

Am folgenden Tag wurde dem Esel ein Packsattel, ein rot-weisses Zaumzeug und weisse Ohrenhauben zum Schutz gegen die Fliegen angelegt, dann hievten die Knechte den dickbäuchigen Steuereintreiber auf den Esel, und die beiden zogen los. Der schwere Reiter drückte auf den Eselsrücken, aber noch schwerer wogen die Säcke mit Gold und Silber, die sie bei den Reichen und die Säcke mit Kupfermünzen, die sie bei den armen Bauern eintrieben. So schuftete Pierre als Esel Tag für Tag.

Währenddessen ging es in der Mühle immer mehr bergab. Der Müller konnte die Arbeit ohne seinen Gesellen nicht mehr bewältigen, die Müllerin stritt vom morgens bis am abends, und Claudine hatte grosse Sehnsucht nach ihrem Liebsten, den sie durch die Schuld ihrer Mutter verloren hatte. Sie ging auf jeden Markt, um zu sehen, ob sie Charles in der Gestalt eines Esels finden würde, aber vergeblich. So vergingen Herbst und Winter.

Als der Frühling kam, bereitete man im Dorf des Steuereintreibers einen festlichen Umzug vor, und lieh sich von ihm den Esel aus. Geschmückt mit bunten Bändern und Blumen führte er den Festumzug an. An diesem Tag war Claudine wieder auf der Suche nach Charles und kam in dieses Dorf. Sie sah das bunte Treiben, den prächtig herausgeputzten Esel an der Spitze des Umzugs.  fSie lief ihm entgegen und als sie vor ihm stand, erkannte sie ihn: «Charles», rief sie, «mein lieber Charles!» Sie umarmte und liebkoste ihn. Da verwandelte sich der Esel in ihren Armen wieder in seine menschliche Gestalt. Was für eine Freude für die beiden! Sie küssten sich und machten sich glücklich auf den Heimweg zurück zur Mühle. Als die Müllerin das glückliche Paar von weitem sah, fiel sie auf der Stelle tot um. Der alte Müller aber empfing die beiden herzlich. Bald wurde Hochzeit gefeiert. Charles und Claudine übernahmen die Mühle und führten sie mit viel Geschick und Freude.

Der Steuereintreiber aber sucht wohl noch immer seinen Esel und wird nie erfahren, was aus ihm geworden ist.

Fassung D. Jaenike, nach:» L'âne du boursier», aus: Joseph Beuret-Frantz, Sous les vieux toits, Légendes et contes jurassiens. Porrentruy, 1949. Aus dem Französischen übersetzt, und neu gefasst unter Mitwirkung von Michèle M. Salmony Di Stefano © Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch

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