Die Quellenjungfrau zu Haldenstein

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

In der Nähe des Schlosses Haldenstein geisterte viele Jahre lang eine Jungfrau in einem Brunnen. Öfters entstieg sie demselben in einem schneeweißen Gewande und wärmte sich am goldnen Strahle der Mittagssonne.

Die Sage über diese Quellenjungfrau gibt Flugi so schön:

Den hohen, dunkeln Wald entlang
Da schreitet ein Jäger in hastigem Gang;
Was schimmert und glänzet so hell?
Was seufzet und stöhnt durch den schweigenden Hain?
Was weinet und wimmert im Mondenschein,
Und klaget am verruf'nen Quell?
Was will denn die dort leise wallt,
Die bleiche, gespenstige Nebelgestalt,
Was lockt und winkt sie mit der Hand? –
»O, eil' nicht so hastig, lieb' Jäger, zu Tal,
Erlöse, erlös' mich von langer Qual,
O, reich' mir die wärmende Hand!« –
Und schaut ihn an so sehnsuchtsvoll,
Und Träne um Träne dem Auge entquoll,
Und netzte das weiße Gewand;
Da wurde dem Mann so seltsam zu Muth,
Da schlug ihm das Herz, da fasst er sich Muth,
Und reicht' ihr die rettende Hand. –
Wie er sie fasst, die Hand von Eis,
Da rollt es durch die Adern ihm heiß,
Als stünden die Bäume in Brand;
Und hinter ihm stürmt es in schauriger Eil'
Wie Schlangengezische, wie Wolfsgeheul' –
Fest hält doch der Jäger die Hand. –
Und stille wird's; – was will denn dort
Das graue Männlein; was winkt es ihm fort?
Sein Körbchen von lauter Demant
Wie schimmert's und flimmert's im Mondesglanz
Von glühendem Golde gefüllet ganz; –
Fest hält doch der Jäger die Hand. –
Es springt ein Wolf mit einem Kind:
»O, rette es, Vater, o, rett' es geschwind.«
Es winkt dir mit zitternder Hand; –
Wohl rannte der Wolf vorüber so schnell,
Wohl tönte des Kindes Gewimmer so gell –
Fest hält doch der Jäger die Hand. –
Da leuchtete der Maid Gesicht
In trunkener Freude: »so trog ich mich nicht!
Du hast mir gehalten die Hand!
So nimm dir zum freundlichen Dankessold
Das Demantkörbchen, gefüllt mit Gold.« –
Sie reicht' es ihm, und verschwand. –


Quelle: Jecklin, Dietrich: Volksthümliches aus Graubünden. 3 Teile, Zürich 1874, Chur 1876, Chur 1878 (Nachdruck Zürich: Olms, 1986), S. 7-8.

 

    

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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