Grad ob Alpoglen, einer schönen Hochalp in der Teilsame Kleintheil, erhebt sich an der nördlichen Seite des Giswilerstockes eine mehrere hundert Fuss hohe senkrechte Felswand in deren Mitte ein mächtiger Felsblock hervorragt, der ähnlich dem Kopf eines riesigen grau und weiss gezeichneten Stieres, im Volke überall als Helmistier bekannt ist.
Vor etlichen hundert Jahren betrieb in der vorhin genannten Alp ein übermütiger Bursche das Sennenhandwerk. Der Bursche war nebenbei zu allerhand losen Streichen aufgelegt. In der gleichen Alp sömmerte nebst andern auch noch der Hofmelk, so benannt, weil er im sogenannten Hof im Kleintheil daheim war, mit einem hübschen Sennten Kühen und einem prachtvollen Stier. Dieser aber war bös und weitherum gefürchtet. Der Senne, der seinen Mutwillen auch an diesem Stier ausliess und sich köstlich freute und ergötzte, wenn das unvernünftige Tier wütend und schäumend durch die steilen Triften raste, trieb es einstens so weit, dass er, als es ruhig weidete, ihm einen roten Länder (Weste), wie sie damals Mode waren, über die Hörner warf. Der Stier, über diese Störung ergrimmt und durch das rote Tuch gehetzt, stürzte in schnellem Lauf auf den Bösewicht los und würde ihn unzweifelhaft fürchterlich zugerichtet haben, wenn der Senne sich nicht in todesgeängstigtem Laufschritt in die Hütte hätte flüchten können. Von da an durfte sich der Senne vor dem Stier nicht mehr sehen lassen und er schwor demselben Rache, wozu sich bald Gelegenheit bot.
Einige Tage darauf, als des Sennen Liebste auf Besuch gekommen, wollte derselbe seiner Geliebten auch seine Meisterschaft im Betenruf zeigen und am Abend, als die Nacht mitleidig ihr schwarzes Tuch auszubreiten begann, schritt der Senne gar stolz zum Kreuz unweit der Hütte und in glockenreinen Tönen ertönte sein „Lobä zio Lobä in Gottsnamen Lobä!", während die andern Hüttengenossen den Abendrosenkranz beteten. Als er aber in seinem Betenruf zu der Stelle gekommen, wo sämtliche Geschöpfe, Menschen und Vieh, Gott und allen Heiligen zum Schutz und Schirm inniglich anempfohlen werden, schloss er extra laut des Hofmelken Helmistier von dieser Beschützung aus.
Die Älpler achteten sich dieser Ausnahme nicht viel und massen ihr auch keinerlei Wirksamkeit bei, waren sie doch an des Sennen Possen gewöhnt und alles legte sich fröhlich zur Ruhe. Mitten in der Nacht weckte aber ein donnerähnlicher Knall die Älpler aus dem festen Schlafe und entsetzliches Stierengeheul durchschwirrte die Luft. Ängstlich sah man dem kommenden Morgen entgegen und furchtsam schlich man aus der Hütte, um sich um das liebe Vieh umzusehen. Dieses aber graste gesund und munter im Läger, nur von des Hofmelken Helmistier war jedwede Spur verloren. Als sie aber zufällig gegen den gegenüber stehenden Giswilerstock blickten, sahen sie zum grossen Schrecken in der Mitte der grausigen Felswand den Kopf des Helmistieres in schrecklicher Grösse auf sie herabblicken, was bis zur Stunde so verblieben ist.
Aus: Franz Niederberger Sagen und Gebräuche aus Unterwalden, Sarnen 1924. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch