Das heutige Giswil hiess vormals Richwil und lag in herrlicher, blühender Gegend. Die Leute waren da so ungeheuer reich, dass man noch jetzt goldene Ketten dort in der Erde findet, mit denen man die Kühe an den Barren band.
Vor langen Jahren nun lebte daselbst eine junge schöne Hexe, zu der ein Ratsherr „z'dorf" ging. Da gab sie ihm einst ein Fläschchen mit einer roten Flüssigkeit und sagte, ein einziger Tropfen davon sei hinreichend, ein schreckliches Gewitter zu erregen; schütte man aber das ganze Fläschchen aus, so gehe das herrliche Richwil mit all seinen schönen Matten und Häusern zugrunde. Der Ratsherr ging nach Hause. Es war der herrlichste Sommertag, den man sich denken kann; wolkenlos in reinstem Blau erstrahlte der Himmel; rings auf den Wiesen ward gemäht und geerntet. Der Ratsherr kam zu solch einer Heuergruppe und meinte scherzend, er habe da ein Fläschchen, mit dem er ihnen leicht einen bösen Streich spielen könnte, so dass sie ihr Heu nass hätten, ehe fünf Minuten um wären. Das war denn doch den Leuten zu viel, da noch nie der Himmel so andauernd wolkenlos gewesen war wie gerade an diesem Tage, und ein freches Mädchen riss dem Ratsherrn das Fläschchen aus der Hand und zerschmetterte es auf einem Stein. «Jesses, Jesses, jetzt gahd ganz Richwil under!» rief der Ratsherr in der höchsten Angst. Und wirklich: Schon ballten sich gewaltige Wolken am Giswilerstock und es entlud sich ein furchtbares Ungewitter, die Laui schwoll gewaltig an, am Berge riss sich ein mächtiges Stück los und ehe eine halbe Stunde verflossen war, sah man von dem einst so blühenden Richwil nichts mehr als Trümmer und Schuttmassen auf denen die junge schöne Hexe mit andern Unholdinnen tanzte.
Tatsache ist, dass die Pfarrkirche von Giswil im Jahre 1629 infolge eines Ungewitters zusammenstürzte und die Fluten der Laui sich über die Trümmer ergossen. Überdies hiess ein Teil von Wilen, das an Giswil angrenzt in ältester Zeit Richeswil, sodass also selbst der Name nicht ganz aus der Luft gegriffen ist.
Aus: Franz Niederberger Sagen und Gebräuche aus Unterwalden, Sarnen 1924. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch