In der Gemeinde Alpnach, da wo heute der einsame Weiler Schoried steht, war vor Jahrhunderten ein schmuckes Dorf, Schönried geheissen. Die Bevölkerung dieses Dorfes erfreute sich eines behaglichen Wohlstandes und lebte in Frieden und Eintracht. Ein jeder freute sich über das Glück des andern. Mit grosser Feierlichkeit wurde alljährlich im August das Fest des Schutzpatrons dieses glücklichen Dorfes, des hl. Joder, begangen. Jung und Alt strömte im Sonntagsstaate herbei. Kurzum, es herrschte Glück und Freude im Dorfe. Das verdross den Teufel gar sehr, denn er konnte es nicht übers Herz bringen, die Menschen glücklich zu sehen. Er sammelte seinen Stab um sich und beratschlagte, wie diese Leute ins Unglück gestürzt werden könnten. Da wurde beschlossen, auf den Tag des hl. Joder, da das gesamte Volk in sorgloser Fröhlichkeit und andächtiger Festfreude sich erging, ein schweres Ungewitter vorzubereiten und sodann die hochgehende Schliere gegen Schönried und über die prächtigen Matten zu leiten und Haus und Hof und die heilige Stätte des Joder unter Schutt und Trümmern zu begraben.
Der Joderstag mit dem verhängnisvollen Ungewitter brach an. Brodelnde Schwüle lag tagsüber über dem Gelände, das, versengt von der Hitze nach einem befruchtenden Regen lechzte. Da, gegen Mittag ballten sich Wolken in der Farbe eines Käskessi. Der helle Mittag verwandelte sich plötzlich in dunkle Mitternacht. Furchtbar rollt der Donner. Der Boden des Alpentales erzittert. Die Felsen beben. Die Blitze, die von Zeit zu Zeit in die schreckliche Finsternis furchtbar hineinleuchten, zeigen den festfeiernden Schönriedern die grausige Lage. Wie ein schwarzes Racheheer ziehen die Wolken daher und giessen Ströme über die steilen Abhänge hinunter. Wie eine Mauer steht das Gewitter da: dicht und schwarz. Das ist nicht mehr der erhoffte befruchtende Regen, das ist ein Strom, der sich auf das Alpental und seine umrahmenden Abhänge ergiesst. Die Bäche und Bächlein laufen wie in einem Trichter zusammen, und alsbald wälzt eine gewaltige, fürchterlich polternde, tosende Wassermasse ihre schmutzig-gelben Fluten durch das zitternde Gelände. Das war ein Tosen und Brausen als wäre der jüngste Tag gekommen. Der Teufel aber sass schmunzelnd in einer Milchmutte und fuhr siegesbewusst auf der vordersten Sturzwelle der daherrollenden Schlieren daher. Bereits hatte er oberhalb des Geissfusssteges mit dem verheerenden Wasser die Richtung gegen Schönried genommen, das Bachbett verlassend. Da hörte er vom Turme her den Klang des Wetterglöckleins und im selben Moment erhob sich vor ihm die Gestalt des hl. Joder, der sich mit dem hl. Kreuzzeichen gegen das herantobende Element waffnete. Da war die Macht des Bösen gebrochen und der Teufel selbst schwebte in grosser Gefahr, in den Fluten, die er selbst heraufbeschworen, umzukommen. Nur mit Mühe gelange es ihm, seinem ungelenken Fahrzeug eine andere Richtung zu geben, um wieder das alte Schlierenbett zu erreichen. Der Teufel hatte den ersten Schwung verloren. Als er am Abend heim zur Hölle kam und von dem Fehlschlagen des Planes erzählte, da herrschte grosse Aufregung unter den tonangebenden Teufeln. Es wurde neuerdings Rat gehalten, wie den Schönriedern beizukommen sei. Allein, das wusste man zum voraus, dass solange der hl. Joder sich seiner Schutzbefohlenen annehme, nichts auszurichten sei. Es wurde daher auf den Rat von Teufels Grossmutter beschlossen, die Bewohner der schönen Gegend von ihrer Frömmigkeit und dem Vertrauen zum hl. Joder abzubringen. Zu diesem Zwecke musste vorerst Neid und Hass unter die Schönrieder gesät werden. Statt Zufriedenheit und Glück kam nun Neid und Missgunst, statt der Demut herrschte Hochmut, statt der früheren Geselligkeit Groll, Fehde und Zwietracht. Die Bitt- und Dankprozessionen zum hl. Joder wurden beseitigt; man fand es für einfacher und zeitgemässer, einen Wächter in den Berg zu schicken, der jedes Mal, wenn sich hinten im Schlierental ein Ungewitter entlud, die Dorfbewohner auf die Gefahr mittels Hornsignal aufmerksam machte. Diese Massnahme erschien umso notweniger, da im Schlierental bei jenem grossen Wasserauflauf eine Rüfe niedergegangen war, welche das Wasser zu einem kleinen See aufgestaut hatte.
Der alte Wächter, der treu seines Amtes waltete, war längst ins Grab gestiegen und durch seinen Sohn im schweren Amte ersetzt worden. Oft rief der dumpfe Ton des Wächterhornes die Bevölkerung von Schönried zur Wasserwehr. Den hl. Joder hatte man vergessen, man konnte es ohne ihn machen.
Oberhalb dem Dorfe Schönried stand eine grosse Mühle. Der Besitzer derselben, ein reicher, behäbiger Mann, besass eine einzige blühende Tochter, Verena geheissen. Diese unterhielt mit dem jungen Schlierenwächter ein Liebesverhältnis, dem der reiche Müller nicht abhold war. So kam es, dass der Schlierenwächter, der schon träumte, dereinst in der Mühle zu schalten und walten, öfters bei der Müllerstochter als auf seinem Posten sich befand.
Eines Tages nun, da der Schlierenwächter von seinem Posten abwesend war, da liess der Teufel das schrecklichste der Ungewitter los. In brandschwarzer Wetternacht zuckten fahle Blitze hinten im Schlierental. Der Schlierenwächter, der sich natürlich bei seinem Schatze befand, eilte keuchend seinem Posten zu. Doch zu spät. Der mächtige Wasserstau hatte den von den Schönriedern errichteten Damm zerrissen. Buschwerk und Wurzelstöcke, Tannen und schwarzer Morast trieben auf dem zornentbrannten schäumenden Element einher und verheerten, was sich ihm entgegenstellte. Das Bachbett verlassend, wälzt sich das Wasser durch Wald und lachende Fluren. Der Schlierenwächter stösst wohl ins Horn, doch klanglos verliert sich dessen Ton, und vom Schlage gerührt stürzt der Wächter tot zu Boden.
Auch vom Turme her tönte kein Wetterglöcklein; man achtete nicht der Gefahr, denn man glaubte den Wächter, der früher jede Gefahr rechtzeitig ankündigte, an seinem Posten. Der hl. Joder, den man verlassen und verschmäht hatte, streckte seine schützende Hand dem drohenden Elemente nicht mehr entgegen. So hatte der Teufel gewonnenes Spiel. Mit aller Macht lenkte er die schlammigen Fluten der Schlieren dem Dorfe Schönried zu und begrub dasselbe samt den zahllosen Bewohnern turmhoch unter Schutt und Trümmern. Auch die Mühle samt der schönen Tochter wurde im Schlamme begraben. Schönried war so in wenigen Augenblicken spurlos vom Erdboden verschwunden. Ein frömmeres Geschlecht hat seither den versehrten Boden gepflegt und der hl. Joder hat sich wieder des Volkes erbarmt, das im sauren Schweisse und in frohem Gottvertrauen dem harten Berufe sich widmet.
Aus: Franz Niederberger Sagen und Gebräuche aus Unterwalden, Sarnen 1924. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch