Im Jahre 1541 herrschte in der Grafschaft Rotberg und Umgebung die Pest, die viele Menschen dahinraffte. Der Seuche auszuweichen und gesündere Luft einzuatmen, verliess Johann Thüring Reich von Reichenstein, Sohn des Jakob von Reichenstein, Herr zu Landskron und Pfandherr zu Pfirt, sein Schloss und begab sich mit seiner Gemahlin Margaretha samt anderem Gefolge in das Bruderhaus von Maria Stein. Am Feste der heiligen Luzia ging er nach dem Mittagessen hinaus ins Freie, um sich ein wenig zu bewegen. Da wandelte ihn die Lust an, die Tiefe und Schauerlichkeit des Tales zu schauen; er trennte sich von dem Gefolge, ging durch den hohlen Felsen, der da einen natürlichen Durchgang bildet, kam auf die Anhöhe und lehnte sich auf einen morschen Ast, um mit dem Auge den Abgrund zu messen. Der Ast brach, und der Edelmann stürzte in die fürchterliche Tiefe hinab. Bald vermisste man den Herrn; die Frauen suchten ihn überall, und als sie ihn nicht fanden, ahnten sie den schrecklichen Unfall. Jammernd wandten sich die Frauen an den Pfarrer Jakob Augsburger und erbaten zum Nachsuchen seine Hilfe. Der Mann eilte sogleich mit seiner Haushälterin in das Tal hinab, und sie fanden nach langem Suchen den Vermissten zwischen Stauden und Steinen liegend, die göttliche Mutter preisend und ihr dankend. Mit Ausnahme einer kleinen Zerquetschung war er lebendig, munter und gesund. Der Geistliche liess den Herrn durch Werner Kuri, Müller von Flüh, und seinen Knecht Simon auf ein Pferd setzen und in die nahe gelegene Mühle führen, wo er, gepflegt und dann auf das Schloss Landskron gebracht, wo er, Gott und Maria lobend, in Bälde genas. Der Edelmann lebte nach seinem Sturze noch zwanzig Jahre, die er den Werken der Frömmigkeit und Wohltätigkeit widmete.
Zum ewigen Andenken an dieses Ereignis liess der Vater des Geretteten nicht nur die Ehrenzeichen und Kleider, die der Sohn beim Sturze getragen, dem Gotteshause übergeben, sondern die ganze wunderbare Begebenheit malen und an der Stelle des schauerlichen Falles zu jedermanns Kunde ein Kreuz errichten. Aus den Kleidern des so wunderbar geretteten Junkers ward ein schönes purpurrotes Messgewand verfertigt, welches, mit dem Namen und dem Wappen der Familie geziert, noch vorhanden ist.
Quelle: P. Keckeis, M. Kully, Sagen der Schweiz. Solothurn, Zürich 1987. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch