Hinter dem Dorfe Erschwil versteckt sich die Lüssel unter der langen Brücke. Bevor die Passwangstrasse erbaut war, fand bloss der Bach den Weg durch die enge Klus. Wenn die Erschwiler ins Beinwiler Kloster zur Kirche wollten, folgten sie einem steilen, holperigen Weg, der über den Felsen führte und oberhalb des Engpasses wieder zur Lüssel herabstieg. In jenen alten Tagen betteten die Leute von Erschwil ihre Toten in Beinwil zur Ruhe. Einmal läutete es einer Jungfrau übers Grab. Das war eine blühende Rose; das schönste Mädchen des Tales, bis hinab nach Basel und hinüber an den Blauenberg. «Ach warum musste sie der Tod knicken, so früh, in ihrem Frühling?» So klagten alle, die sie kannten, und wischten sich die Tränen aus den Augen. Als der Leichenzug ihrem Sarge über den Felsen folgte, da schrieen die Leute plötzlich entsetzt auf. Der Wagen war auf den glatten Felsplatten ausgeglitten. Der Sarg kollerte in die Schlucht hinab. Dort unten prallte er so hart auf, dass der Deckel wegsprang. Als die Tannen die schöne Jungfrau erblickten, da liessen sie in Trauer ihre Äste tief herabhängen. Die übermütigen Waldvögel schwiegen, und nur hin und wieder vernahm man einige klagende Töne. Und die gelben und blauen Blümlein im Tale jammerten: «Ach, könnten wir fliegen, fliegen wie die Vögel! Wir möchten uns die Hände reichen zu einem schönen Kranze, die Jungfrau schmücken und mit ihr ins Grab, droben auf dem Klosterhügel! Lasst uns mit, die Sehnsucht erwürgt uns!» Stumm wie ein ernster, wettergehärteter Bauer blickte die harte Felswand auf die lächelnde Schönheit im Sarge. Da drang die Wehmut hinein bis ins Felsenherz. Die Männer kamen herbei, um den Sarg wieder zu schliessen. Da stupfte der eine den andern mit dem Ellbogen und murmelte: «Schau, die Fluh weint! Sonst war sie doch immer trocken. Auch sie kann's nicht begreifen, dass wir die Schöne auf den Kirchhof führen!»
Quelle: P. Keckeis, M. Kully, Sagen der Schweiz. Solothurn, Zürich 1987. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch