Der rote Jäger im Roggenhausertal

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Eine betagte Frau aus Eppenberg hatte eines Abends noch einen Gang nach Aarau zu machen. Sie wollte Arznei für ihr plötzlich erkranktes Enkelkind holen und konnte den Hin- und Herweg binnen zwei Stunden ganz wohl zurücklegen, wenn sie sich sonst nicht weiter aufhalten liess. Es begann schon etwas zu dunkeln, als sie das Roggenhauser Tälchen erreichte und dort an den Steg hinunter kam, der über den Waldbach der Wöschnau führt. Hier aber verwehrte ihr ein Jäger den Übergang. Der Mann war von grosser Gestalt und hatte neben seinem sonst grünen Gewand einen roten Federbusch am Hut. Als der Mann gegen sie anschlug, hielt sie es erst für einen Jägerscherz und rief «Schiesst nur, ich fürchte mich nicht!» Allein der Jäger zielte unverändert und lächelte dazu nicht freundlich, sondern henkermässig. «Ich habe keine Zeit, hier den Narren zu machen», sagte das Weib, «lasst mich hinüber!» Ohne sich zu rühren, blieb der Jäger im Anschlag stehen. Bei so später Zeit konnte sich das Mütterchen nicht lange säumen. «Wenn es sein muss, so schiesset denn in Gottes Namen!» Auf dieses Wort sah sie nichts mehr vor sich als den offenen Steg. Allein nun wagte sie sich nicht mehr hinüber. Sie ging wieder zurück nach einem der paar Strohhäuser, die hundert Schritte entfernt am hinteren Ende des Tales liegen, und bat die dortige Bäuerin, sie über den Steg bis an die Landstrasse vor zu begleiten. Diese aber war selber allein im Hause, kochte gerade die Abendsuppe und konnte ihre Pfanne siedender Milch weder wegstellen noch ins Feuer laufen lassen. So ging denn die Alte ohne die Arznei heim und hatte die Freude, dass ihr das Enkelkind, das sie für krank gehalten, fröhlich entgegen gesprungen kam.

Nicht lange nachher sollte aber auch jene Bäuerin im Roggenhauser Tale, die so unbereitwillig gewesen war, selber eines Besseren belehrt werden. Auf ihrem Heimweg vom Wochenmarkte aus der Stadt, sah sie an derselben Stelle, wo der Jäger das Mütterchen bedroht hatte, ein rotseidenes Halstuch liegen. Sie nahm ihren Marktkorb an den linken Arm herüber und langte mit der Rechten nach dem Tüchlein. Doch da stiess sie einen lauten Schrei aus. Es brannte sie plötzlich, als ob sie in eine Igelhaut gegriffen hätte. Vom Halstuche war nichts mehr zu sehen. Alles, was sie

davontrug, war ein böser Zeigefinger, der manche Woche schwoll, eiterte und zuletzt krumm blieb. Solches Unheil rührt vom Dürst her, der hier in den Waldungen Mösli und Oberholz mit einer Koppel schwarzer Stellhunde jagt. Er soll der Besitzer des alten Herrenhofes Blumenstein gewesen sein. Deshalb kam er sogar am hellen Tage in das Dorf Eppenberg geritten, das seit der Reformationszeit aus seinem Hofe entstanden, und schrie sein «Drei Schritt aus Weg!» den Leuten entgegen.

Quelle: P. Keckeis, M. Kully, Sagen der Schweiz. Solothurn, Zürich 1987. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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