Die verzauberte Prinzessin

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

In der Umgebung einer ziemlich grossen Stadt lebte einmal ein sehr reicher Mann, der hatte drei Söhne: Gian, Giachem und Andreia. Eines Tages sagte der Vater zu ihnen: «Da ich spüre, dass ich zu alt und zu schwach bin, um wie zuvor unsere Güter und das Geschäft zu verwalten, möchte ich das euch übergeben. Aber um Zank und Streit zu vermeiden, was euch leider unmöglich ist, will ich euch einige Aufgaben stellen. Wer am tüchtigsten und fähigsten ist, der soll das Geschäft übernehmen. Hier habt ihr also Geld; damit geht ihr in die Stadt, wo dieser Tage ein grosser Markt stattfindet, und jeder kauft dort Stoff für ein Kleid. Jener aber, der mir den feinsten und schönsten Stoff bringt, wird den andern vorgezogen.» Die drei Burschen nahmen das Geld und ihre Bündel und brachen von zuhause auf, Gian und Giachem jedoch nicht, ohne über Andreia, den Jüngsten, gespottet zu haben. Denn der galt bei beiden als Trottel.

Andreia wartete, bis die Brüder ausser Sicht waren, dann ging er traurig alleine Richtung Stadt. Er kam in einen dichten Wald, und um einen Augenblick auszuruhen, setzte er sich auf einen Stein. Plötzlich sah er ein Glaskügelchen vor seine Füsse rollen. Da er meinte, irgendein Kind hätte es vielleicht verloren, hob er es auf und schaute es von allen Seiten an. Auf einmal fiel es ihm aus der Hand und rollte bis zu einer bestimmten Stelle, wo es plötzlich stehen blieb. Andreia ging bis dorthin und sah jetzt ein schönes rotes Seidenbändchen aus dem Rasen herausschauen. Neugierig bückte er sich und zog eine kleine Falltür herauf, die den Blick auf eine breite Treppe aus vergoldetem weissem Marmor freigab. Er fasste Mut und stieg hinunter. Zuerst gelangte er in einen schönen Gang mit teilweise vergoldeten schwarzen Marmorsäulen. Der Fussboden war mit einem prächtigen Mosaik aus farbigen Steinen bedeckt. Je weiter er voranging, umso mehr freuten ihn die schönen Dinge, die er sah. Aber in all diesen prächtigen Zimmern begegnete er keiner Seele. So ging er immer weiter, bis er vor eine Tür am Ende eines langen Ganges kam. Auf den Ruf, den er auf sein Klopfen hörte, trat er ein und schauderte im ersten Augenblick, als er ein grosses und langes Tier mit zwei Armen, aber ohne Beine am Boden liegen sah. Aber er beruhigte sich recht bald, als er sah, dass es den Kopf hob und ihn freundlich begrüsste: «Guten Tag, schöner Bursche, was führt dich zu mir da unten?» Nun begann Andreia dem Tier zu erzählen, was uns bekannt ist. Da sagte das Tier: «Wenn es weiter nichts ist, so kann ich dir wohl helfen. Schau dort diesen kleinen Schrank an der Wand - geh hinüber und nimm dort das Paket heraus, doch sei nicht neugierig und öffne es erst, wenn du zuhause bist, sonst geht es dir schlecht.» Andreia war jetzt sehr froh und verabschiedete sich mit herzlichem Dank.

Als er heimkam, warteten dort schon seine Brüder, die hatten gar keine schönen Stoffe mitgebracht. Als Andreia sein Paket öffnete, waren alle vier verblüfft, denn sein Stoff war der feinste und schönste, den man sich nur denken kann. Jetzt sagte der Vater zu Gian und Giachem: «Da schaut, ihr habt Andreia immer für den Dümmsten gehalten - diesmal war er der Gescheiteste und hat meine Aufgabe am besten gelöst.» Gian und Giachem wurden ganz gelb vor Neid und plagten von nun an den armen Andreia noch viel ärger.

So vergingen Tage und Monate, und man sprach nicht mehr so viel von dieser Sache. Da wurde verkündet, dass in einigen Tagen in der Stadt ein Markt mit edlen Hunden stattfinden werde. Nun rief unser Alter seine Söhne zusammen, gab ihnen erneut Geld und sagte: «Hier habt ihr Geld, geht auf den Markt, und jeder soll mir einen Hund bringen, und jener, dessen Hund mir am besten gefällt, wird vorgezogen.» Die drei Burschen machten sich recht bald auf den Weg. Auch dieses Mal hatte der arme Andreia viel unter der Schlechtigkeit und Bosheit seiner Brüder zu leiden, und wiederum ging er traurig alleine weg. Wie vor Monaten gelangte er in jenen dichten Wald, wo er das erste Mal gewesen war. Als er auf einem Stein sass, fand er wieder das Glaskügelchen, das führte ihn wie schon einmal zum verzauberten Tier. Es begrüsste ihn freundlich, und nachdem das Tier seine Klagen gehört hatte, sagte es ihm, er werde den gewünschten Hund in dem und dem Zimmer finden. Andreia ging dorthin, und wirklich, in diesem Zimmer sass ein prachtvoller, schön gemusterter Hund mit langem Haar; der sprang ihm freudig bellend und mit dem Schwanze wedelnd entgegen. Andreia ging jetzt zum Tier zurück, dankte ihm von ganzem Herzen und machte sich mit seinem Hund auf den Weg.

Zuhause fand er wieder seine Brüder, die vom Markt alles andere als schöne Tiere mitgebracht hatten. Als Andreia mit seinem schönen und klugen Hund in die Stube kam, waren im ersten Augenblick sowohl der Vater wie die Brüder stumm vor Erstaunen. Gian und Giachem warfen wütende und neidische Blicke auf Andreia, der sich freute, ihnen seinen Hund zu zeigen. Der Vater, der seinerseits von diesem Tierchen ganz entzückt war, stand ganz auf Andreias Seite und achtete nicht gross auf die beiden andern.

So verging die Zeit, und unterdessen wurde bekannt, dass in der Umgebung ein grosser Mädchenmarkt stattfand, das heisst: Die Burschen von nah und fern konnten für Geld und gute Worte eines der Mädchen zur Frau nehmen. Der Vater sagte jetzt zu seinen Buben: «Heute will ich euch zum letzten Mal auf die Probe stellen. Haus und Hof werden jenem gehören, der die schönste Braut vom Markt bringt.» Die drei Burschen brachen so schnell als möglich auf. Andreia ging auch dieses Mal in den Wald und fand schon bald den Palast des Tieres, das ihm bis jetzt so gut geholfen hatte. Diesmal sagte es zu ihm: «Du musst wissen, dass ich eine verzauberte Prinzessin bin. Alles, was du hier siehst, ist ebenfalls verzaubert. Ich selbst muss auf jenen warten, der mich erlösen kann. Mein Herz sagt mir, dass du derjenige bist. Pass nun gut auf und achte auf das, was ich dir sage. Also - wenn du im Stande bist, mich in meiner vollen Länge sieben Mal treppauf, treppab durchs Haus zu schleppen, ohne auch nur einen Augenblick auszuruhen - so bin ich erlöst, und du kannst mich heiraten. Dann wird es dir gut gehen, denn du wirst Besitzer all der schönen Dinge sein, die du hier siehst.

Andreia dachte einen Augenblick gut nach, denn es war nicht gerade eine Kleinigkeit, jenes Riesentier sieben Mal durchs Haus zu schleppen, ohne auszuruhen. Kurz und gut - er machte sich dahinter, und es dauerte mehrere Stunden, bis er fertig war. Aber während er sich den Schweiss abwischte, gab es plötzlich einen fürchterlichen Knall, als ob das Haus zusammenfiele. Im selben Augenblick zeigte sich vor Andreia ein wunderschönes Mädchen mit einer goldenen Krone im langen blonden Haar und dankte ihm mit einem liebevollen Lächeln für ihre Erlösung. Nachdem sie nochmals durch das ganze Haus gegangen waren, machten sie sich auf den Weg. Gian und Giachem waren unterdessen nach Hause gekommen. Sie hatten zwei grundhässliche, unförmige Lombardinnen mit roten Strümpfen mitgebracht. Der Vater las ihnen eben die Leviten, dass sie solche Schwiegertöchter mitgebracht hatten, da erschien plötzlich eine prächtige Kutsche mit vier Schimmeln in silbernem Geschirr vor dem Haus. Alle Leute des Dorfes strömten zusammen, um dieses Wunder zu sehen. Doch noch grösser war die Überraschung, als Andreia wie ein grosser Herr aus der Kutsche sprang, den Vater umarmte und ihn der Prinzessin vorstellte. Der war natürlich sehr zufrieden mit ihm und übergab ihm vor den Brüdern Haus und Hof. Aber Andreia, der ein reicher Mann geworden war, schenkte alles Gian und Giachem. Bald darauf kehrte er mit Braut, Vater und Brüdern in den schönen Palast zurück; hier feierten sie eine wunderschöne Hochzeit, und sie sind noch dort, und - das Märchen ist zu Ende.

(Oberengadin)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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