Fast jede Gegend hat ihr eigentümliches Gespenst, so auch die Gegend um die Stadt Solothurn. Doch bleibt dieses Gespenst innerhalb bestimmter Grenzen, die es nicht überschreitet. Es erscheint stets nur von den Mühlen zu Bellach bis zum Marktturm, nie aber jenseits der Aare oder oberhalb der Loretokapelle. Denn dort herrscht der wilde Jäger, dessen Gebiet es nicht betreten darf. Dieses Gespenst, das man Gäutier oder Hirtakus nennt, ist der Geist des römischen Statthalters Hirtakus, eines Heiden, der einst die hl. Märtyrer Urs und Viktor enthaupten liess und nun zur Strafe bis zum jüngsten Tag in Tiergestalt um Mitternacht umherwandeln muss. Vor allem treibt es in der Gegend des Zollhauses sein Unwesen. Dort erblickten es einst mehrere Zöllner, die in der Nacht, von seinem furchterregenden Geheul aufgeweckt, ans Fenster eilten.
Gross wie ein Kalb, wächst es immer mehr und mehr, springt dann über die Schanze in die Stadt, wo es an der Hinteren, Gurzeln- und Schmiedengasse den Nachtwächter zu Tode erschreckt. Das Gäutier zeigt immer ein böses Wesen. Es schreckt die Leute so, dass sie danach krank werden oder geschwollene Glieder bekommen. Spätheimkehrende führt es in die Irre und lässt sie in den Werkhofweiher oder den Schanzengraben fallen. Oft wissen die Leute gar nicht mehr, wo sie sind. Manches Mal wirft das Gäutier der Zöllnerin auch die aufgehängte Wäsche in den Schanzengraben hinunter.
Quelle: P. Keckeis, M. Kully, Sagen der Schweiz. Solothurn, Zürich 1987. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch