Die drei Ratschläge

Land: Schweiz
Kategorie: Novelle

Es war ein Mann, der hatte eine grosse Familie. Eines Tages denkt er, er gehe als Knecht und lasse die Frau seine Kinder aufziehen. Er geht weg und gibt seiner Familie jahrelang keine Nachricht. Da schon sehr viele Jahre vergangen waren, wollte er zurückkehren und schauen, wie es um die Familie stehe. Eines Tages sagte er dies seinem Meister. Der fragte ihn, was er lieber habe, drei gute Ratschläge oder den Lohn. Der Mann dachte nach und sagte, er wolle die drei guten Ratschläge. Da riet ihm der Meister, er solle immer der Strasse nach gehen, nie auf Pfaden, zweitens nie die Nase in die Angelegenheiten der andern stecken, drittens den Zorn erst auf den andern Morgen verschieben.

Der Mann denkt, diese Ratschläge sind besser als der Lohn. Der Meister gibt ihm etwas Reisegeld und ein Brot und befiehlt: «Schneide dieses Brot nicht an, bevor du zuhause bist.» Jetzt macht sich der Mann auf die Reise und begegnet gleich einem Wanderer. Sie gehen ein grosses Stück Weg zusammen, bis zu einem Pfad. Der Wanderer meint: «Ich nehme den Pfad.» Der Mann erwidert: «Ich gehe der Strasse nach.» Jetzt gelangt der Mann zu einem grossen Wirtshaus. Er klopft an. Das Tor öffnet sich; ein Mann kommt heraus und fragt, was er wolle. Er antwortet: «Schauen, ob Ihr mich übernachten lässt.» Dann geht er hinein und verlangt, dass man das Abendessen bringt. Man legt für ihn sorgfältig einen Teller und einen Holzlöffel auf den Tisch. Der Mann setzt sich an den Tisch. Der Wirt öffnet einen Schrank und lässt eine Alte herauskommen. Den Mann wundert es, was für eine Alte das ist. Doch er erinnert sich an die drei guten Ratschläge und geht zu Bett.

Am Morgen steht er auf, und es geschieht das gleiche wie am Abend. Dann steigt der Wirt mit dem Mann in den Keller und lässt ihn den Wein probieren. Der Wirt zieht eine Falltür hoch und sagt: «Schau, da unten. Dieser Kopf ist der deines Kameraden. Wenn du dem Pfad gefolgt wärst und gefragt hättest, was für eine Alte das sei, so läge dein Kopf auch da unten.»

Der Mann zieht wieder weiter und kommt in sein Dorf. Er geht in ein Wirtshaus und lässt sich zu essen geben. Danach steigt er auf eine Laube, um das Dorf anzuschauen. Er sieht gerade seine Frau im Garten, wie sie Gemüse holt. Da kommt ein schöner Bursche in den Garten und küsst seine Frau. Jetzt wird er wütend, denn er meint, seine Frau habe einen andern. Er nimmt das Gewehr, das dort ist, und will die Frau und den Burschen erschiessen. Aber nein, die drei guten Ratschläge fallen ihm ein, und er schiesst nicht. Am Abend fragt er nach seiner Familie. Sie antworten: «Der Vater ist weggegangen und hat sich nie mehr gemeldet. Die Mutter hat die Kinder aufgezogen, und morgen feiert der älteste Sohn die Primiz.» Jetzt wird ihm bewusst: «Wenn du geschossen hättest, so hättest du deine Frau und dein Kind erschossen.» Die drei Ratschläge waren sehr gut gewesen.

Am andern Tag ging er hin und gab sich zu erkennen. Was für eine Freude sie da hatten, dass der Vater genau zur Primiz seines ältesten Sohnes eingetroffen war! Zum Mittagessen wurden allerlei Gerichte aufgetragen, zuletzt kam auf einem Teller das Brot des Meisters.

Jetzt schnitt der Vater das Brot an, und heraus fiel sein ganzer Lohn, viele Dublonen. Der Vater hatte also seinen reichlichen Lohn und die drei guten Ratschläge. Ohne die wäre er nicht nach Hause gelangt.

(Oberhalbstein)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.  

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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