Die drei Hunde

Land: Schweiz
Kategorie: Zaubermärchen

Es war einmal ein schwerkranker Mann. Als er den Tod nahen fühlte, rief er seine drei Söhne, Gian, Giachem und Andrea zu sich. Er sprach zu ihnen: «Wisst, meine lieben Buben, ich glaube, mit mir ist es bald zu Ende. Ich habe euch rufen lassen, um nach meinem Tod Streit zwischen euch zu verhindern. Wie auch ihr wisst, sind wir arm, und alles, was wir besitzen, sind das Haus, die Möbel, die drei Hunde und jene paar Gulden, die ich zusammengespart habe. Nun denn: Du, Andrea, kannst als der Älteste das Haus nehmen, Giachem als der Zweitälteste bekommt die Möbel, und du Gian nimmst die drei Hunde, den Eisenfetzer, den Lumpenfetzer und den Lumpenreisser sowie das bisschen Geld, das ich unter meinem Kissen habe.» Kurz darauf starb der Vater.

Die Burschen waren zufrieden mit ihrer Erbschaft, aber alle Leute begannen zu schwatzen und sagten: «Giachem und Andrea haben noch ein gutes Los gezogen, doch dieser arme Gian mit seinen drei Hunden, was soll der bloss tun ausser betteln?» Gian jedoch grübelte nicht lange; zwei Tage nach dem Begräbnis des Vaters nahm er seine Gulden und die drei Hunde, und nachdem er allen drei reichlich zu fressen gegeben hatte, machte er sich auf den Weg und sagte, er wolle sein Glück in der Ferne suchen.

Er wanderte den ganzen Tag und die ganze Nacht, und am Morgen gelangte er in eine schöne Gegend und sah auf dem Feld Bauern, die schon arbeiteten. Er ging zu einem jener Männer hinüber und fragte ihn: «O sagt, lieber Freund, wie heisst diese Gegend?» Der Bauer antwortete: «Wir sind von Florenz» - und mit dem Finger ein Stück weiter zeigend: «Seht dort, den Kirchturm von Florenz, und seht jenes Haus daneben mit den grünen Läden. Da geschieht Schreckliches, und eben noch heute Nacht ist ein hübscher frischer Bursche ums Leben gekommen.» Gian fragte nun den Mann, was für schreckliche Dinge denn in jenem Haus geschehen seien, und der Bauer antwortete: «Der siebenköpfige Drache wohnt darin, und wer sich hineinwagt, um ihn zu töten, kommt nicht mehr lebendig heraus; alle zusammen bringt er um. Die armen Teufel gehen hinein und setzen ihr Leben aufs Spiel, weil in jenem Haus eine Schrift aufbewahrt sein soll, worin steht, jenem, dem es gelinge, den Drachen umzubringen, gehöre das Haus mit allem, was drin sei, und es soll sogar in einem Keller ein Topf mit Gold und Silbergeschirr vergraben sein. Erst gestern war hier Markt, und ein Bursche, der sich wieder in jenes Haus wagte, ist bis jetzt noch nicht herausgekommen, der ist bestimmt schon mausetot.» Gian dankte dem Mann für seine Auskünfte, rief seine drei Hunde und ging weiter mit dem Gedanken: «Wer weiss, ob ich hier nicht ein gutes Geschäft machen könnte!»

In der Stadt musste er an einem Brunnen vorbei. Die Frauen, die drum herum standen und wuschen, redeten laut, und Gian konnte ganz gut verstehen, dass sie von jenem Burschen sprachen, der ins Drachenhaus gegangen war. Jetzt sah er ein kleines Wirtshaus, wo ein Schild mit einem Ochsenkopf hervorragte, und er dachte: «Das hier könnte jetzt vielleicht ein recht gutes Wirtshaus sein.» Er trat ein und wurde vom Wirt freundlich willkommen geheissen. Auch die alte Wirtin begann mit ihm zu plaudern, und die Tochter, ein schönes Mädchen, warf sogleich ein Auge auf diesen stattlichen Burschen. Gian begann nun, die Rede auf den Markt vom Vortag zu bringen und erwähnte, ein Bauer habe ihm vom Unglück, das in der Nacht zuvor geschehen sei, erzählt.

«Ja, ja, das ist wohl eine schauderhafte Sache, dass so viele Männer ihr Leben gewagt haben und nie mehr aus jenem Haus zurückgekommen sind», sagte die Wirtin. Nun entgegnete Gian: «Also gut, wenn so viele ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, so will ich das auch, ich gehe noch heute Nacht mit meinen drei Hunden in jenes Haus.» Da erwiderte der Wirt: «Ihr werdet doch nicht etwa verrückt geworden sein, Ihr werdet doch nicht auch ums Leben kommen wollen, und dass ihr es verlieren werdet, ist so gut wie sicher.» Auch alles Bitten der Mutter und der Tochter half nichts. Als es einzunachten begann, verlangte Gian Brot und Milch für seine Hunde, und als sie nach dem Fressen satt und friedlich waren, liess er sich auch das Futter bringen, das er seinen Hunden nachts geben wollte. Dann verabschiedete er sich von seinen Wirtsleuten mit den Worten: «Passt morgen auf, wenn ihr um fünf drüben im Drachenhaus die Fensterläden offen seht, so kommt nur sogleich zum Haus, denn so zeige ich, dass ich am Leben bin.» Als Gian dem Wirt adieu sagte, sprach der zu ihm: «Ich wünsche Euch viel Glück, und wenn Ihr es fertig bringt, den Drachen aus dem Weg zu räumen, so seid ihr ein gemachter Mann, denn dann gehört das Haus Euch mit allem, was drin ist.»

Sobald Gian im Haus war, liefen die drei Hunde schnüffelnd im Gang herum. Gian liess sie in die Stube und befahl ihnen: «Eisenfetzer, du legst dich unter den Tisch, Lumpenfetzer, du bleibst hier mitten in der Stube, und du, Lumpenreisser, legst dich neben die Tür, die zum Zimmer über dem Ofen führt, aber seid ruhig und rührt euch nicht, bis ich euch rufe.»

Gian hatte jetzt Zeit, sich in der Stube umzusehen. War das eine Pracht! Der Diwan und die Sessel mit Seide bezogen, und auf dem Gestell standen prächtige Bücher. Gian nahm ein paar davon, setzte sich an den Tisch und begann zu lesen und die Bilder anzuschauen. Er wurde dabei überhaupt nicht gestört; das Haus schien wie ausgestorben. Ein anderes Geräusch als das Schnarchen der Hunde war nicht zu hören, und Gian war so in die Bücher vertieft, dass er die Kirchturmuhr nicht einmal beachtete. Erst als die grosse Glocke elf schlug, legte er die Bücher wieder aufs Gestell zurück, und er spitzte die Ohren, ob etwa Lärm zu hören sei, doch es war ganz ruhig. Als er auf das Schrankbrett schaute, stand da eine schöne Korbflasche Wein und daneben lagen ein Salsiz und ein Brot. «Sapperlot, das da ist wie extra für mich gemacht», dachte er, «jetzt wollen wir recht essen.» Er öffnete den Schrank und nahm ein schönes Glas hervor, schenkte Wein ein und begann zu essen und zu trinken; dann nahm er das Brot und schnetzelte für seine Hunde Brocken in eine grosse Schale Milch. Als die fertig gefressen hatten, hiess Gian jeden an seinen Platz zurückgehen und dachte, dass der Drache sich bald bemerkbar machen könnte.

Und - tatsächlich! Kurze Zeit später schien es, als hörte man in der Kammer über der Stube schwere Schritte, und die kamen immer näher zur Falltür; dann schien es, als würden schwere Ketten in der Stube herumgeschleift, und auf einmal gab es oben ein schreckliches Gerumpel. Die Hunde spitzten die Ohren und wollten aufstehen, aber Gian befahl ihnen sitzen zu bleiben. In dem Augenblick schlägt es auf dem Kirchturm Mitternacht, und beim letzten Schlag öffnet sich die Falltür mit einem fürchterlichen Lärm, und eine schauderhafte, tiefe Stimme brüllt: «Ich werfe!» - «Wirf du nur», rief Gian. «Ich werfe!» ruft es abermals, und Gian entgegnet: «Wirf du nur!» Und zum dritten Mal brüllt es durch die Falltür nach unten: «Ich werfe!» und Gian schreit hinauf: «Wirf du nur!» und in dem Augenblick - pflatsch - plumpst der siebenköpfige Drache auf den Boden.

Jetzt befahl Gian: «Lumpenreisser, tu deine Pflicht!» Da stand der Drache auf und wollte zu Gian hinüber, um ihn aufzufressen. Aber der Lumpenreisser riss an den Lumpen herum, die der Drache auf sich hatte. Doch jetzt, als Gian sah, dass der Drache den Lumpenreisser biss, rief er: «Lumpenfetzer, tu deine Pflicht!»

Und der fetzte vom Drachen die Lumpen Stück um Stück weg. Als Gian merkte, dass der Drache schwer zu kämpfen hatte, rief er: «Jetzt ist die Stunde da, wo, du verfluchter Schuft, deine Tage zu Ende sind. Zuerst aber wirst du mir den Schlüssel zum Keller zeigen müssen, wo der Topf mit dem Schmuck vergraben liegt.» Der Drache begann zu brüllen und zu schreien: «Nie soll es geschehen, dass du den Schlüssel kriegst!» - «Eisenfetzer, tu deine Pflicht!» rief Gian; aber kaum hatte jener den Drachen am Hals gepackt, so schrie dieser: «Lasst mich am Leben, lasst mich am Leben, der Schlüssel liegt auf dem Schrankbrett.» Gian nahm nun den Schlüssel, öffnete die Stubentür und befahl dem Drachen hinauszugehen, aber der wollte ihn angreifen, und auf einen Schrei Gians packten die Hunde den Drachen so fest, dass er jetzt die Treppe hinunter stieg. Gian öffnete den Keller, und der von den Hunden blutig gebissene und vorwärts geschleifte Drache musste auch hinein. Jetzt befahl Gian dem Drachen, die Stelle zu zeigen, wo der Topf vergraben lag. Aber erst nachdem die Hunde ihm den Bart ausgerissen hatten, zeigte der Drache, wo der Topf war. Der kam nach wenigen Schaufelstichen zum Vorschein, und Gian konnte ihn mit Mühe und Not aufheben. Er wandte sich jetzt zum Drachen und sagte: «Hier kannst du nun den Schatz sehen, wegen dem so viele Leute ums Leben gekommen sind - jetzt gehört das alles mir!» Der Drache erhob sich brüllend und wollte Gian am Hals packen, aber in dem Augenblick verpasste ihm der Eisenfetzer einen solchen Schlag, dass er betäubt und der ganzen Länge nach mitten im Keller lag. Wenig später war es aus mit ihm.

Jetzt nahm Gian die drei Hunde, stieg mit ihnen die Treppe hoch und sagte: «Ihr habt eure Pflicht getan und sollt dafür belohnt werden, aber jetzt begleitet ihr mich bis unters Dach; ich will im ganzen Haus die Läden öffnen.» Was Gian für Augen machte, als er all jene schönen Zimmer und all die schönen Sachen darin sah, könnt ihr euch vorstellen! Vor Freude verlor er fast den Verstand. Als er im ersten Stock unten war, da schlug es auf dem Turm schon vier. Jetzt ging er in die Küche und von da in die Vorratskammer. Das war ein grosser Raum mit einem schönen Tisch, darauf standen ein Dutzend Kaffeetassen und daneben Teller mit Blätterkuchen, einem Stollen, Mailänderli und Brot. «Sapperlot, welche Pracht! Gewaltig! Jetzt fehlt nur noch der Kaffee, und den kann ich auch machen, wenn ich ihn finde», dachte Gian. Und tatsächlich, in der Küche fand er alles: Kaffee, Milch, Brot und Käse, Zunder und Feuerzeug, und in ungefähr einer halben Stunde war der Kaffee schon in den Kannen. Nun trug Gian die Tassen und die Esswaren in die Stube und stellte alles ordentlich auf den Tisch; dann ging er in den Gang und schob den Riegel des Tors zurück, weil er dachte, dass der Wirt mit Frau und Tochter kommen könnte, um nach ihm zu sehen.

Nun lassen wir das beiseite und schauen, wie es den Wirtsleuten geht. Die Frau Wirtin und die Tochter verbrachten eine schlimme Nacht; beide standen ein paar Mal auf und liefen ans Fenster, um nachzuschauen, ob die Läden vielleicht offen ständen. Sogar der Wirt erwachte einmal und sagte: «Was wird bloss jener arme Bursche drüben machen, der wird wohl schon mausetot sein.» Schlag fünf sprang die Tochter aus dem Bett, rannte ans Fenster, und mit einem Freudenjauchzer rief sie: «Vater, Mutter, steht augenblicklich auf - die Läden sind offen, und es ist Licht im Drachenhaus drüben.» Alle drei zogen sich in Windeseile an, und nach kurzer Zeit standen sie vor der Haustür. Gian ging rasch hinaus, als er Schritte hörte, öffnete die Tür und hiess sie willkommen. Die Wirtsleute wollten nicht mehr aufhören, Gian zu fragen, wie es ihm gegangen sei und was er gemacht habe, um den Drachen aus dem Weg zu räumen.

Gian berichtete nur in Eile und sprach: «Nachher könnt ihr alle den mausetoten Drachen im Keller unten anschauen, jetzt kommt ihr zuerst in die Stube und trinkt den Kaffee mit mir.» Und das war eine Überraschung für die Wirtsleute! «Eine solche Stube», sagte die alte Wirtin, «habe ich noch nie gesehen; sogar Sessel mit Brokatdecken hat's, und dieser Schreibtisch und dieser Spiegel, mein Gott, was für prächtige Sachen!» - «Nun, nun», sagte Gian, «Frau Wirtin, seid so gut, kommt an den Tisch und trinkt den Kaffee, den ich ganz allein gemacht habe, der ist bestimmt ganz gut.» Und Recht hatte er; ausgezeichnet war der Kaffee, die Blätterkuchen und alles zusammen. Sobald sie den Kaffee getrunken hatten, rief Gian die drei Hunde, gab ihnen Brocken und Milch und sogar ein paar Blätterkuchen und Mailänderli, und unterdessen räumte das Fräulein Wirtin alle Sachen vom Tisch und brachte sie in die Küche. Als sie in die Stube zurückkam, ging Gian zum Tischchen hinüber, nahm jenen Topf mit dem Schmuck und sagte: «Jetzt wollen wir diesen Topf ein wenig genauer anschauen.» Er begann allerlei Schmuck herauszuholen, Halsketten, Ohrringe, Fingerringe und sogar Golduhren. Den schönsten Goldring gab er der Wirtstochter mit den Worten: «Diesen Ring gebe ich Euch, wenn Ihr mir versprecht, meine Braut zu sein, denn ich fühle grosse Liebe zu Euch.» Und das Mädchen war einverstanden und sagte, dass auch sie ihn auf den ersten Blick geliebt habe. Gian teilte nun noch schöne Geschenke an den Wirt und an die Wirtin aus, und als jene das Haus verlassen wollten, so war vor dem Tor viel Volk versammelt, und alle wollten den Drachen sehen. Der Drache wurde in den Gang geschleift, so dass alle ihn anschauen konnten, und Kinder und Erwachsene jubelten vor Freude, dass er tot war. Wenige Tage später feierten sie Hochzeit und luden aus jedem Haus einen ein und hatten ein wunderschönes Leben - und das Märchen ist zu Ende.

(Oberengadin)

 

Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.

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