Früher wurde das Land von der Reuss bis nach Frankreich hinein Burgund genannt. Es war ums Jahr 922 einem König Rudolf untertan. Die Frau des Königs hiess Bertha, eine schöne, gutherzige und in allen Dingen wohl unterrichtete Dame. Als Königin nähte sie ihrem Gemahl alle Kleider selber, ritt alljährlich im Lande herum, lehrte die Frauen Gärten anbauen, Hanf und Flachs pflanzen, auch spinnen und nähen. Wenn sie ausritt, so hatte sie immer ihre Kunkel und Spindel bei sich und spann selbst auf dem Pferd. Damals band man den Flachs wie heute auch an eine Kunkel; dann aber drehte man ihn mit den Fingern zu einem Faden, und wand diesen auf eine Spindel.
In derselben Zeit aber lebte im Wälschland ein Mägdlein, das spann den feinsten Faden weit und breit. Als es einst ein Bund Garn, das schönste, das es gesponnen, fertig hatte, und es ihm niemand nach Gebühr bezahlen wollte, da brachte sie es der Königin zum Geschenk. Weil die Königin als gute Spinnerin das Garn zu schätzen wusste, freute sie sich über den feinen Faden. «Du hast fein gesponnen, meine Tochter!» sprach die Königin. «Deshalb gehe hin; und binde den Faden an die Falle deiner Haustüre, und soviel Land du mit dem Garne umziehen kannst, soll dir und den Deinen eigen sein.» Das Mädchen dankte und gewann für sich und seine Eltern das schönste und grösste Landgut der Gegend. Nach dem Tod der Königin kam im Lande der Spruch auf: «Es ist nicht mehr die Zeit, da Bertha spann!»
Quelle: P. Keckeis, M. Kully, Sagen der Schweiz. Solothurn, Zürich 1987. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch