Die Solothurner sahen in uralter Zeit von ihren Wällen aus, wie Mauern und Türme sich von Menschenhand bis zu den Bergen hin überall erhoben. Da wurden sie unruhig und begannen für ihre Stadt zu fürchten.
Die Räte traten zusammen und beschlossen, jeder müsse sich im Gebrauch der Waffen üben. Man baute das Zeughaus und füllte es mit Lanzen, Piken, Hellebarden, Armbrüsten, Wagen und Maschinen; im Hof davor stapelte man Kugeln auf. Nachts machten die Bürger mit Sturmhaube und geschulterter Büchse die Runde auf den Wällen.
Da aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit gross war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war, da reute es ihn, dass er die Menschen gemacht hatte auf Erden, und es bekümmerte ihn in seinem Herzen.
Und er sprach: «Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde ...»
Es fing an zu regnen. Die Berge verschwanden. Die Wolken platzten. Die Flüsse traten über die Ufer. Die Wasser überfluteten die Äcker. Die Leute von Solothurn sahen die grossen Städte, welche die Riesen erbaut hatten, eine um die andere zusammenfallen, und lange Tage hindurch hörten sie die Riesen und Tiere brüllen.
Dann wurde es totenstill. Man hörte nur noch das Fallen des Regens.
Das Solothurnerland war mit Wasser bedeckt. Die Bauern, die in die Stadt hatten flüchten können, lagerten sich unter den Lauben, auf dem gedeckten Markt, im Zeughaus und in den Kirchen.
Die Wasser stiegen bis zu den Zinnen der Mauern, aber nicht höher; die Stadt kam ohne Schaden davon.
Die Sintflut dauerte vierzig Tage.
Schliesslich liess der Regen nach, dann hörte er auf. Die Leute von Solothurn stiegen auf ihre Wälle; ringsum sahen sie nichts als ein weites, graues Meer. Alles war verschwunden, ausser ihrer Stadt und dem nahen Berg. Und alles war wie am Anfang der Welt.
Am folgenden Tag schien die Sonne und man stellte fest, dass das Wasser sich gesenkt hatte.
Zwei Tage später sahen die Leute von Solothurn einen riesigen Raben über die Wasser fliegen. Mit einer letzten Anstrengung hob er sich höher, dann stürzte er vor den Wällen nieder und war tot.
Am folgenden Tag war keine Wolke mehr am Himmel. Berggipfel ragten aus der Ferne herüber. Die Leute von Solothurn sahen eine Taube pfeilschnell auf die Stadt zufliegen. Sie setzte sich auf einer Zinne nieder und liess sich fangen. Man fütterte sie und steckte sie in einen Käfig, dessen Türe man offen liess, um zu sehen, was sie tun werde. Am Abend war sie nicht mehr da; man sah sie mit einem grünen Zweig im Schnabel ostwärts fliegen. Am folgenden Tag wehte ein heisser Wind. Die Wasser hatten sich abermals gesenkt. Die Leute von Solothurn sahen ein grosses Schiff, das vom Winde getrieben wurde; es war die Arche.
Quelle: P. Keckeis, M. Kully, Sagen der Schweiz. Solothurn, Zürich 1987. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch