Einmal kam ein Wanderer in eine Stadt. Da war alles mit schwarzer Seide verhüllt. Der Wanderer fragte: «Wieso ist man hier so traurig?» Man antwortete: «Der Drache will jedes Jahr eine Jungfrau zum Morgenessen; sie haben das Los gezogen, und es traf die Königstochter. Sie begleiten sie vor die Stadt hinaus, und nachher muss sie allein gehen, und der Drache kommt ihr entgegen. Der König hat verkünden lassen, wenn einer ihn töten könnte, so gäbe er dem seine Tochter zur Frau.» Der Wanderer fasste Mut und bereitete sich auf den Kampf mit dem Drachen vor, und er schaffte es, ihm alle sieben Köpfe abzuhauen. Er schnitt die sieben Zungen heraus, nahm sie mit und sagte zur Königstochter: «Sag es keinem und geh nach Hause, innert Jahr und Tag kehre ich zurück, dann heiraten wir.»
Da kam ein anderer Wanderer vorbei, fand die sieben Köpfe, nahm sie mit, ging zum König und verlangte die Tochter. Der König willigte ein, doch die Tochter erwiderte: «Bis Jahr und Tag nicht vorbei sind, heirate ich nicht.» Der erste Wanderer kehrte nach Jahr und Tag im selben Wirtshaus ein. Er sagte: «Als ich letztes Jahr hier war, trauerte die ganze Stadt, jetzt ist alles mit roter Seide überzogen.» Der Wirt erzählte, was vorgefallen war und dass die Königstochter morgen jenen heirate der dem König die sieben Köpfe des Drachen gezeigt habe. Der Wanderer liess um Erlaubnis bitten, mit dem König zu sprechen. Er bekam sie. Da fragte er den König: «Hat es Zungen in den sieben Köpfen?» Der König schaute nach, und allen waren die Zungen herausgeschnitten worden. Daran konnte er erkennen, wer den Drachen getötet hatte. So heiratete der die Tochter, und der andere wurde wegen seiner Lüge ins Gefängnis geworfen.
(Oberhalbstein)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.