Es waren einmal ein Mann und eine Frau, die hatten eine Tochter namens Maria. Das war ein schönes Mädchen mit blauen Augen und blonden Haaren, die wie Gold glänzten. Seit Marias Geburt hatte sich ihre Mutter nie mehr ganz erholt; sie war ständig krank und wurde von Tag zu Tag schwächer und elender. Das Mädchen war noch sehr jung und hatte kaum mit der Schule begonnen, als eines schönen Tages die Mutter starb. Der arme Mann war zuerst halb verzweifelt und wusste nicht, was anfangen. Mit der Zeit dachte er an eine zweite Heirat, denn er konnte das Mädchen nicht allein lassen. Er verheiratete sich folglich mit einer Köhlerin. Mit der hatte er noch zwei Töchter, von denen keine so schön wie Maria war. Darum behandelten sie diese auch schlecht und hassten sie. Bis zur Geburt ihrer Töchter war die Stiefmutter immer freundlich zu Maria gewesen, aber seither hatte sich das geändert. Die arme Maria war deshalb unglücklich und unzufrieden; doch sie zeigte das nie und beklagte sich nie darüber bei andern. Der Vater, der seine Tochter sehr liebte, merkte es trotzdem und hatte Mitleid mit ihr. Er redete viel zu ihren Gunsten mit seiner Frau, doch als er dann sah, dass die immer wütender wurde, gab er es auf. Manchmal, wenn die Stiefmutter und die Halbschwestern Maria ganz schlecht behandelten, beklagte sie sich wohl hie und da beim Vater, der zu ihr hielt und ihr immer Mut zusprach; doch auch er sah ein, dass das auf die Länge nicht gehen konnte. Die Köhlerin schaute immer, dass ihre Töchter schönere und kostbarere Kleider als Maria trugen; sie liess Maria die schwersten Haushaltsarbeiten machen, während die Halbschwestern in der Stube beim Häkeln oder Sticken sassen. Maria sagte nie etwas dazu, doch abends, wenn sie ihre Arbeit fertig hatte, ging sie bei Mondschein zuweilen auf den Friedhof hinaus, warf sich hier auf das Grab ihrer Mutter und weinte und schluchzte laut.
So verging eine gute Weile, und eines schönen Tages veranstaltete der Prinz jenes Landes einen grossen und schönen Tanzabend, wo die ganze Jugend mitmachen konnte. Jetzt war selbstverständlich die Köhlerin den ganzen Tag damit beschäftigt, ihren Töchtern die schönsten Kleider nähen zu lassen; aber an Maria dachte niemand! Die hatte keinen einzigen Tanzabend besuchen dürfen, seit sie erwachsen war, und auch an die Unterhaltung des Prinzen zu gehen, wollte ihr die Stiefmutter nicht erlauben. Der Vater sagte wohl einmal zu seiner Frau: «Aber wie ist das eigentlich, lässt du meine Maria auch nicht an diesen Tanzabend gehen?» Die Köhlerin antwortete: «Das würde gerade noch fehlen, nein, nein, deine Maria geht mir nicht an Tanzabende, sie soll gescheiter ihre Arbeit machen!» Und der arme Mann hatte nicht den Mut zu widersprechen.
Am gleichen Abend ging Maria, da ihr das Herz wieder schwer war, ans Grab ihrer Mutter, und dort weinte und seufzte sie mehr denn je. Plötzlich sah sie eine grosse Helligkeit über sich, und langsam kam vom Himmel herab ein wunderschönes, völlig vergoldetes Kästchen. Die arme Maria war im ersten Augenblick ganz erstaunt, dann nahm sie das schöne Ding mit und ging ganz schnell damit nach Hause zum Vater. Sie erzählte ihm, was geschehen war und öffnete mit ihm zusammen das Kästchen. Was für Schönheiten sie sahen! Im Kästchen waren zwei vollständige Ballkleider mit allem, was dazugehört: ein weisses mit goldenen und das andere blau mit silbernen Sternen. Maria nahm sofort das blaue Kleid heraus und probierte es an, und es sass ihr wie angegossen. Da sie zu einer wunderschönen Jungfrau herangewachsen war, weckte sie dadurch den Neid und den Hass der Halbschwestern erst recht. Im Kleid mit den silbernen Sternen schien sie geradezu wie eine Prinzessin, und der Vater sprach in seiner Freude zu ihr: «Siehst du, meine Tochter, was ein schönes Kleid ausmacht. Wenn deine Schwestern dich so sähen, die würden vor Wut platzen.»
Unterdessen hatten Marias Schwestern sich kostbare Kleider nähen lassen, in denen sie sich so gut gefielen, dass sogar Maria diese anschauen durfte. Maria lobte die Kleider nicht wenig, und sie sagte zu ihnen: «Aber diesmal wird die eine oder andere von euch sicher als Braut heimkommen! Auf jeden Fall werdet ihr die Schönsten sein!» Diese Reden hörten beide gern, und sie waren deshalb auch anständiger zu Maria. Die hatte mit dem Vater abgemacht, sie werde sich zurechtmachen, sobald die andern weg wären. Die Stiefmutter sagte vor dem Weggehen zu ihrem Mann: «Kommst du denn nicht auch und schaust, wie deine Töchter tanzen?» Er antwortete: «O doch, vielleicht komme ich ein wenig später auch ein Weilchen, obwohl ich eigentlich wenig Lust habe, meine Maria so allein hier im Haus zu lassen!» Genug - als die andern weg waren und Maria ihre Arbeit erledigt hatte, machte sie sich mit Hilfe des Vaters an die Vorbereitungen für den Tanzabend. Sie wählte dieses Mal das blaue Kleid mit silbernen Sternen, und der Vater schenkte ihr noch ein schönes Tüchlein von der Farbe des Kleides mit breiten eingewobenen Silberstreifen. Als unsere Maria sich schön gemacht hatte, hielt eine schöne Kutsche, die der Vater für sie bestellt hatte, vor dem Haus. Der wollte nämlich, dass das Mädchen wie eine grosse Dame an den Tanzabend fuhr.
Unterdessen wurde im Königsschloss schon getanzt, was das Zeug hielt, und auch Marias Halbschwestern hatten schon mehrere Tänze mit dem Prinzen hinter sich. Alles war froh und glücklich wegen der schönen Unterhaltung, da erscheint unter dem Tor auf einmal und unangemeldet eine wunderschöne junge Frau mit blondem, goldglänzendem Haar und einem himmelblauen Kleid mit silbernen Sternen. Von allen Ballkleidern war dieses das schönste und prächtigste. Kaum hatte der Prinz das Mädchen erblickt, forderte er sie zum Tanz auf, liess sie mehrere Tänze mit ihm tanzen und fragte sie schliesslich nach ihrem Namen. Maria nannte ihm nur den Vornamen.
Der Vater hatte ihr gesagt, sie solle bis ungefähr zwei Uhr früh tanzen, dann aber wenn möglich heimlich verschwinden und sodann ihre Arbeit im Haus erledigen. Als es zwei Uhr war, befolgte Maria den Rat ihres Vaters, und sie verschwand unbeobachtet. Der Prinz, der diese Flucht nach kurzer Zeit bemerkt hatte, war unzufrieden und dachte bei sich: «Nächstes Mal will ich auf die Flüchtige gut aufpassen.» Unterdessen gelangte unsere Maria ungestört nach Hause, zog wieder ihr schlechtes Alltagskleid an und machte sich sogleich an die Arbeit, damit die Stiefmutter und die Halbschwestern bei ihrer Rückkehr alles in Ordnung vorfinden, sofort zu Morgen essen und sich dann hinlegen konnten. Maria fragte nun die Schwestern, wie sie sich vergnügt hätten, und die erzählten ihr, zuerst sei es sehr gut verlaufen, sie hätten mehrere Male mit dem Prinzen tanzen können, bis da kurz vor elf ganz unerwartet ein wunderschönes Mädchen mit blauen Augen und langen, goldglänzenden Haaren erschienen sei. «Und denk dir nur, von all den schönen Kleidern im Saal war jenes himmelblaue Kleid mit silbernen Sternen, welches das fremde Mädchen trug, das schönste und prächtigste. Von diesem Augenblick an hatte der Prinz nur noch Augen für sie; er schaute sonst keine einzige von den anderen mehr an und tanzte immer nur mit ihr, ja, er fragte sie schliesslich sogar nach ihrem Namen. Das fremde Mädchen sagte ihm diesen auch, doch sie nannte sich nur Maria, den Nachnamen behielt sie für sich. Jetzt denk dir nur, so um zwei Uhr herum machte sich unser schöner Vogel sanft und leise davon, ohne dass eine Menschenseele das Geringste bemerkt hätte!» Nach diesem Bericht fühlte sich die gute Maria innerlich nicht wenig geschmeichelt, und sie war glücklich und froh, ja, sie begann als grosses Wunder sogar zu singen.
So ging es eine gute Weile weiter, bis der Prinz eines schönen Tages wieder einen Tanzabend veranstaltete, diesmal liess er jedoch am Nachmittag vor dem Ball Leim auf eine Stufe der Marmortreppe streichen, die vom Palast ins Freie hinausführte. Wiederum ging es gleich wie beim ersten Tanzabend, nur dass Maria diesmal im weissen Kleid mit goldenen Sternen kam, in welchem sie noch viel besser aussah als im blauen. Aber als sie zur gleichen Stunde wie beim ersten Mal aus dem Saal floh und die Marmortreppe hinunterlief, musste sie einen ihrer schönen Goldpantoffeln zurücklassen. Kurz nachdem sie entwischt war, brachte der Diener des Prinzen den Pantoffel freudig seinem Herrn. Der war sehr zufrieden, wenigstens einen Schuh der schönen Tänzerin zu haben.
Eines Tages nun gab er bekannt, er werde in jedes Haus der Tänzerinnen kommen, um diese den Pantoffel anprobieren zu lassen. Jene, der er passe und die Maria heisse, werde er als Braut heimführen. Auf diesen Erlass hin war die ganze Jugend jenes Ortes damit beschäftigt, den hohen Gast würdig zu empfangen. Der fuhr in geschlossener Kutsche von Haus zu Haus, bis er auch vor jenes der Köhlerin gelangte. Marias Schwestern, die sich einbildeten, die Richtige zu sein, obwohl keine Maria hiess, probierten den Pantoffel an. Doch wie sie auch drückten und schoben, sie konnten den Pantoffel nicht anziehen, er war zu klein. Der Prinz fragte nun den Vater der Mädchen ob er nicht etwa noch eine Tochter habe. Der antwortete: «Aber doch, Herr Prinz, ich habe wohl noch eine Tochter, aber die spielt das Aschenputtel, und ich kann sie nicht gut hereinlassen.» Da schrie die Frau: »Wenn du versuchst, mit dieser Schmutzliese vor den erlauchten Herrn Prinzen zu treten, dann werde ich dich auf eine ganz besondere Art hinausbefördern, dass du`s nur weisst!» Doch der Prinz befahl nun, auch Maria hereinzulassen und sagte, er wolle ausnahmslos alle Mädchen den Pantoffel anprobieren lassen. Da ging der Mann Maria rufen, die freute sich sehr, jenen schönen Burschen, den sie seit langem liebte, wieder zu sehen. Sie wusch sich, kämmte ihr Haar schön und zog ihr Sonntagskleid an. Als sie in der Stube stand, hatte der Prinz sie sofort wiedererkannt, schon bevor sie glücklich lächelnd ohne die geringste Mühe den Pantoffel anprobierte. Der Prinz sprang von seinem Schemel auf und rief: «Du und nur du bist jene, die ich suche, ich habe dich schon erkannt, als du in die Stube kamst. Komm sogleich mit mir und sei meine geliebte Braut!» Die Stiefmutter und die Halbschwestern schauten mit grossen Augen und waren schrecklich neidisch auf Maria. Die ging sogleich mit dem Prinzen weg, der sie seinen Eltern vorstellen wollte. Wenige Monate später machten sie eine wunderschöne Hochzeit, wozu alle Freunde des Prinzen eingeladen waren. Sie hatten ein gutes Mittagessen, wovon auch ich einen kaputten Pantoffel und ein Sieb Wein erhielt, als Lohn dafür, dass ich dieses Märchen erzählte.
(Oberengadin)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.