Ein Mann, der mit Fischen seine arme Familie ernährte, hatte fünf Buben und eine Frau, die war guter Hoffnung. Eines Tages ging er fischen. Da schwamm ein Fisch daher und fragte wütend: «Was machst du hier?» - «Ich versuche Fische zu fangen, um meine fünf Buben und die Frau durchzubringen.» Der Fisch sagte: «Wenn du mir in zwölf Jahren den Buben geben willst, den die Frau jetzt dann gebären wird, so will ich dir so viele Fische verschaffen, dass du reich genug werden kannst.» Der Mann versprach dies, denn schliesslich kann ein Fisch nicht aufs Trockene kommen, «und ins Wasser will ich den Buben nie gehen lassen.» Trotzdem hatte der Vater Angst um seinen Jüngsten, und oft vergoss er Tränen, wenn er daran dachte, was mit ihm geschehen könnte.
Mit zwölf Jahren wollte der Bub in fremde Länder zu seinen Brüdern gehen. Sein Vater sagte: «Dich lasse ich nicht fort, denn du bist dem Fisch versprochen worden, und wenn du einmal ins Wasser gehst, fängt er dich.» Der Bub erwiderte: «Ich will nur auf dem Trockenen gehen», und er brach auf.
Ein Stück weiter fand er ein totes Pferd. Daran frassen ein Bär, eine Ameise und ein Rabe. Er ging vorbei, ohne darauf zu achten, hörte sie jedoch rufen, er solle kommen und das Pferd teilen. Er kam, spaltete mit dem Schwert den Schädel und gab das Hirn der Ameise, mit den Worten: «Du bist klein und musst dich mit dem Wenigsten begnügen.» Er schlitzte das Pferd auf, gab die Innereien dem Raben und alles andere dem Bären. Kaum war er ein paar Schritte weiter gegangen, da riefen sie ihn zurück und sagten: «Was müssen wir dir bezahlen? Du hast das Pferd so gut geteilt, dass wir alle sehr zufrieden sind.» – «Gebt, was ihr wollt!»
Der Bär sagte: «Reiss mir eine Kralle aus; damit kannst du dich in einen Bären verwandeln und in Stücke hauen, was du willst!» Die Ameise sagte: «Reiss mir ein Bein aus, so kannst du dich in eine Ameise verwandeln und überall hinkriechen!» Der Rabe sagte: «Reiss mir eine Feder aus, so kannst du fliegen, wohin du willst.»
Jetzt gelangte er in eine Stadt, wo alle traurig waren. Er vernahm, der Drache habe eine Königstochter geraubt, früher auch schon vier andere. Wohin der Drache gegangen sei, wusste niemand. Er sagte dem König, er wolle herausfinden, wo seine Töchter seien. Der König versprach ihm Geld genug, falls er sie zurückbringe.
Er flog als Rabe weg, holte den Drachen ein und sah, dass er mit den Königstöchtern in einem Felsloch unter dem Boden verschwand. Er folgte ihnen als Ameise durch das Loch hinunter, gelangte durch eine Spalte in einen grossen Saal und sah dort zwölf Jungfrauen in Gefangenschaft des Drachen. Zueinander sagten sie: «Hierher kann nie einer kommen, um uns zu befreien.» Als die Ameise sah, dass der Drache fest schlief, verwandelte sie sich in einen schönen Burschen und begann mit den Königstöchtern zu reden: «Ich bin gekommen, um euch zu befreien, wenn eine mich dann heiraten will.» Alle antworteten: «Welche willst du?» «Ich nehme jene, die neu dazu gekommen ist.» Sie sagten: «Aber wenn der Drache erwacht, ist es unmöglich, wegzugehen. Wir hätten hier wohl Schlangeneier, um sie auf seiner Nase zu zerdrücken, so müsste er sterben, doch niemand ist dazu im Stande.» Er entgegnete: «Gebt mir die Eier, und lasst mich machen!» Darauf verwandelte er sich in einen Bären und zerbrach die Eier auf der Nase des Drachen, so dass der mausetot war. Als Rabe flog er wieder zum König und brachte ihm die Nachricht, dass seine Töchter am Leben und gesund waren, aber er werde sie nur befreien, wenn er ihm seine jüngste Tochter gebe. Der König willigte ein. Jetzt kehrte er zum Drachenloch zurück und zog alle herauf. Sie mussten auf einem Fluss nach Hause zurück und baten ihn, bei ihnen zu bleiben. Er sagte: «Ich kann nicht wegen des Fisches.» Doch im vollen Wissen um die Gefahr liess er sich von den Frauen überreden. Auf dem Wasser kam der Fisch und schnappte ihn. Der liebte den Gesang, und die Königstöchter hatten vor Freude schön gesungen. Der Fisch rief: «Singt, singt!» Die Königstöchter antworteten: «So lass jenen aus deinem Maul, den du uns genommen hast!» Sie sangen wiederum schön; der Fisch reckte sich und hörte mit offenem Maul zu. Darauf flog der Bursche als Rabe aus dem Maul des Fisches und ging zum König, um ihn zum Empfang der Töchter ans Ufer zu schicken. Eine grosse Freude war im ganzen Land, und am nächsten Tag gab es feierliche Hochzeit.
(Oberhalbstein)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.