Es waren einmal ein Bruder und eine Schwester. Der Bruder hiess Nuttign und die Schwester Mengetta. Eines Tages nun schickte die Mutter sie in den Wald, um Streu zu sammeln. Sie gab jedem einen kleinen Rechen, eine kleine Krätze, ein Fässlein mit ein wenig Milch sowie ein Stück Brot und Käse zum Essen. Sie rechnete nämlich damit, dass die Kinder bis zum Abend im Wald blieben und dann mit ihren kleinen Krätzen voll Streu zurückkämen.
Mengetta und Nuttign brachen ganz zufrieden Richtung Wald auf, und als sie am Ziel waren, begannen sie Streu zusammenzurechen. Eine kleine Krätze war schon randvoll, als Mengettas kleiner Rechen an etwas hängen blieb. Sie bückte sich, um zu sehen, was es sei. Eine Zinke des Rechens hatte sich an einem Stück Holz verfangen, und an diesem war ein rotes Bändchen festgebunden. Sie zogen am Bändchen, hoben eine kleine Falltür hoch und sahen eine lange Treppe, die hinunter führte. Sie überlegten nicht lange und stiegen hinunter, und zuunterst, was sahen sie? - Ein schönes Zimmer und in der Mitte einen Tisch, der mit allen möglichen guten Sachen derart beladen war, dass er fast auseinanderbrach. Da waren Torten und Butterfladen, Grieben- und Blätterteigkuchen, und auch eine Auswahl an Schnitten fehlte nicht. Doch was ihnen wirklich die grösste Lust machte, war eine Schüssel Schlagrahm. So etwas von Bewirtung hatten sie ihr Lebtag noch nie gesehen, wirklich. Und die Kinder schauen mit gierigen Augen auf all diese Köstlichkeiten. Obwohl sie einen rechten Heisshunger haben, ihnen der Magen knurrt und der Hals trocken ist - das Brot und der Käse sind seit langem das dunkle Tal heruntergerutscht, und das Milchfässlein ist auch völlig leer -, rühren sie nichts an. Sie stehen dort Hand in Hand, schauen die Herrlichkeiten an, verschlingen sie mit den Augen, doch sie langen nicht einmal mit einem Finger dran. Jetzt - was geschieht - eine Tür geht auf, und es kommt ein ganz schöner und gut gekleideter Herr herein; der schaut die Kinder an und fragt sie: «Was macht ihr beide hier?» Und der Bub und das Mädchen erzählen ihm, ihre Mutter habe sie in den Wald geschickt, um Streu zu sammeln, und dabei sei der Rechen mit einer Zinke an einem Stück Holz hängen geblieben, und daran sei ein rotes Bändchen festgebunden gewesen. Sie hätten daran gezogen, da sei eine Falltür aufgegangen, darunter sei eine Treppe gewesen, sie seien da hinuntergestiegen und hier angelangt. «Doch angerührt haben wir nichts», sagten sie. «Nein», bestätigte der Herr, «das habe ich gesehen, und weil ihr so brav gewesen seid, so setzt euch nur an den Tisch und esst so viel ihr wollt.» Die Kinder taten dies und langten tüchtig zu, denn diese Art Bewirtung hatten sie nicht jeden Tag. Als sie satt waren, gab der Herr dem Nuttign eine kleine Krätze und der Mengetta ein Körbchen und sagte: «Nehmt dies, meine Kinder, und geht nach Hause, doch gebt Acht und zwar gut, dass ihr unterwegs nicht stehen bleibt und schaut, was in der Krätze und im Korb ist, bis ihr bei eurer Mutter in der Stube seid.» Die Kinder dankten dem guten Herrn und machten sich glücklich auf den Weg nach Hause. Die Mutter sah sie auftauchen, ging vor das Tor und bereitete ihnen einen wenig schönen Empfang: «Seid ihr endlich auch schon hier, eine Riesenarbeit werdet ihr wohl gemacht haben, und wo habt ihre eure Krätzen und Rechen gelassen, unfolgsame Bälger, die ihr seid!» Doch Nuttign und Mengetta erwiderten: «Oh, liebe Mutter, schimpf nicht mit uns, warte, bis wir in der Stube sind, dann erzählen wir dir, wie es uns gegangen ist.» Und sobald sie durch die Tür waren, begannen sie zu erzählen, was sie beim Streu sammeln erlebt hatten. Jetzt schauten sie nach, was in der Krätze und im Körbchen war, und was kam zum Vorschein? Aus Mengettas Körbchen ein schönes Goldührchen mit Kette, Armbänder sowie Ohrringe mit Gehänge dran, und aus Nuttigns Krätze auch eine Golduhr mit Kette, Ringe und noch andere schöne Sachen. Und während sie dort standen und alle diese prächtigen Schmuckstücke bestaunten, ging die Tür auf und Jelscha, die Nachbarin, kam herein. Sie blieb ganz verblüfft stehen, als sie diese Prachtdinger sah und wollte wissen, woher sie dies alles hatten. Die Kinder wollten zuerst nicht damit herausrücken, doch Jelscha drohte: »Wenn ihr mir nicht sagt, woher all diese schönen Sachen kommen, so ist das ein Zeichen dafür, dass ihr sie gestohlen habt, und ich gehe und zeige euch der Polizei an, und dann wehe euch.» - Da sagte die Mutter: «Da es nun einmal so ist, sollt ihr alles erzählen, denn wer weiss, was sie sonst für eine Geschichte daraus macht.» Nun erzählten die Kinder ihr alles ganz genau. «Gut», sagte Jelscha, «ich will auch in den Wald gehen, und morgen musst du, Mengetta, mitkommen und mir zeigen, wo die Falltür ist.» Da versprach Mengetta, sie mitzunehmen. Am andern Tag stand Jelscha schon vor Tagesanbruch vor dem Tor und rief Mengetta, und sie brachen Richtung Wald auf. Bei der kleinen Falltür sagte Jelscha sofort: «So, jetzt geh du nur zurück, ich kann wohl allein hinuntersteigen.»
Als sie zuunterst auf der Treppe stand und den Tisch mit allen möglichen Köstlichkeiten darauf sah, überlegte sie nicht lange, nahm einen Stuhl, setzte sich und langte tüchtig zu. Da ging die Tür auf, der Herr trat ein und fragte: «Was machst du hier, und wer hat dich geheissen herunterzukommen und dich sogleich an den Tisch zu setzen, als wärest du hier daheim?» - «Oh», antwortete Jelscha, «beim Anblick all dieser guten Sachen konnte ich mich nicht beherrschen, und ich habe ein wenig davon versucht. Verzeiht, lieber Herr, und gebt mir auch ein Körbchen wie der Mengetta.» Der Herr erwiderte: «Gut, für dieses Mal will ich dir verzeihen. Da, nimm dieses Körbchen und trag es nach Hause. Doch gib Acht, und zwar gut, dass du nicht dreinschaust, bis du zuhause bist.» Da packte Jelscha den Korb und rannte rasch die Treppe hinauf. Zuoberst liess sie die Falltür krachend zufallen und lief heimwärts. Doch bevor sie den Waldrand erreicht hatte, setzte sie sich auf einen Baumstrunk und öffnete neugierig das Körbchen. Doch - welcher Schreck - statt einer Uhr und Ohrringen mit Gehänge waren Kröten und Schlangen und Skorpione drin. Die krochen sofort an ihr hoch, und sie stachen und bissen sie, und je mehr Jelscha versuchte, diese schrecklichen Biester los zu werden, umso mehr hefteten sich die an sie. Jetzt begann sie wie unter dem Messer zu schreien und rannte heimwärts. Ihre Mutter hörte die Schreie und lief ihr entgegen; doch nur mit Mühe vermochte sie Jelscha von den Schlangen und Skorpionen, die sie scheusslich zugerichtet hatten, zu beschützen. Sobald die Mutter ihr das Blut abgewaschen hatte,- denn sie war ganz voll Blut - ging Jelscha hinüber zu ihren Nachbarn und machte ihnen Vorwürfe, weil es nicht so gewesen war wie sie ihr gesagt hatten, und weil es ihr derart schlecht gegangen war. Doch Mengetta und Nuttign sagten: «Wir können nichts dafür, hättest du es so gemacht wie wir und dich beherrscht, so wäre es auch dir gut gegangen. Da können wir wirklich kein Mitleid haben und nur sagen: Geschieht dir recht.»
(Oberengadin)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.