Früher war es üblich, dass die Sennen der umliegenden Alpen jeweilen des Sonntags in die Kirche im Melchtal zur Messe gingen. Nach Schluss des Gottesdienstes verfügten sie sich gewöhnlich in die Kaplaneiwirtschaft, um auch dem dicken Italiener des Kaplans den gebührenden Tribut zu entrichten. Die Zecherei dauerte manchmal bis gegen Abend und manch einer ging dann unsichern Schrittes und schweren Hauptes wieder seiner Alp zu.
Das passierte auch einmal einem Sennen der Klyster-Alp. Auch er hatte im Kreise froher Zecher den ganzen Nachmittag pokuliert, gefasst und schliesslich, darauf bauend, dass sein Hüttengespane das Notwendigste schon besorgt haben werde, kommt er erst spät abends wieder bei seiner Hütte an. Mühsam ersteigt er die Leiter zu seiner Daster, vergräbt sich in's duftende Heu und bald schnarcht er in tiefem Schlafe. Da schreckt er plötzlich auf. Was ist das? Deutlich hört er den Betruf singen, in einer solchen Tonfolge und so grausig monoton, dass ihm dabei die Haare zu Berge stehen. Verflogen sind die Geister des roten Welschen; es fällt ihm ein, dass er diesen Abend den Betruf vergessen und nun zweifelsohne der Klystermann das Versäumte nachhole. Behend verliess er sein Heulager und suchte unten die Milchvolle, ohne sie jedoch finden zu können. Wie er die Hüttentüre öffnete, erblickte er vornen beim Kreuz eine hohe Mannesgestalt in flatterndem Mantel, der er sich zagend näherte. Plötzlich brach der Betruf ab und der Rufende war spurlos verschwunden. Auf dem Steine neben dem Kreuz lag die Milchvolle, die der Älpler zitternd ergriff und sodann den Betruf zu Ende sang.
Den Betruf hat er fürder nicht mehr vergessen.
Aus: Franz Niederberger Sagen und Gebräuche aus Unterwalden, Sarnen 1924. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch