Hans Rotzer lebte vor vielen hundert Jahren im Blätzli im Melchtal; von Jugend auf hatte er den sehnlichsten Wunsch, ein überaus kräftiger Mann zu werden. Er verschrieb sich daher dem Teufel, der ihm eine in der Geschichte vergebens gesuchte Körperkraft verlieh; Hans Rotzer aber versetzte dafür dem Teufel seine Seele; er ward hierauf der beste Schwinger weit und breit und bewältigte auch die schwersten Lasten mit Leichtigkeit.
Zur damaligen Zeit wurde das Salz in Fässern in's Melchtal getragen; wer aber ein solches von Sarnen in's Melchtal hineingetragen hatte, dem tat der Rücken noch lange weh. Unser Rotzer aber machte sich einen Spass daraus, zwei Salzfässer, die er zusammenband, so dass eines hinten, das andere vorne hing, in's Melchtal zu tragen. Auf seinem Gange fischte er noch im Melchaatobel. Von Leuten befragt, äusserte Rotzer, das Tragen mache ihm nichts, nur wenn er über die Melchaa springe, geniere ihn das Zusammenschlagen der Fässer ein wenig.
Die ungeheuer grossen Marmorblöcke, aus denen die Säulen in der Pfarrkirche Sachseln gehauen wurden, sind bekanntlich von den Gemeinden des Landes aus dem Melchtal nach Sachseln transportiert worden. Der Transport, der durch das weglose Melchaatobel bewerkstelligt werden musste, war äusserst schwierig. Während nun die anderen Gemeinden eine Unzahl starker Männer benötigten, war es Hans Rotzer, der schier allein die pflichtige Frohnarbeit für Melchtal leistete. Als einmal ein solches Marmorungeheuer in's Melchaatobel zu rutschen drohte, stemmte er seinen Fuss entgegen und rettete den schönen Block vor der sicheren Zertrümmerung.
Als die Frohnarbeiter einmal wetteten, welche Gemeinde mit dem Marmor zuerst bei den Werkhütten sei, da gab's für den Rotzer willkommene Arbeit. Am Abhange bei der Kuhmatt mit seinem Blocke angekommen, stellte er sich vor denselben, zog und bremste. Wohl rann dem Riesen der Schweiss in Strömen und er lechzte mit der grossen Zunge, die aussah wie ein Bräntlisdeckel, aber er überwand alle Schwierigkeiten und langte als erster mit seinem Blocke in Sachseln an. Seine Fussstapfen allerdings sieht man in der Kuhmatt noch heute.
Im Winter bei frischgefallenem Schnee hat Hans Rotzer das vor dem Hause des dortigen Kaplans angebundene Pferd eines fremden Herrn auf die Achsel genommen und ziemlich weit weg in einen Stall getragen. Der fremde Herr, beim bemerkten Verluste seines Reitrosses ziemlich unwirsch, verwunderte sich, weil er im tief gefallenen Schnee keine Fussstapfen des Pferdes entdecken konnte. Doch wurde ihm das Pferd alsbald wieder zurückgebracht.
Als die herrlichen Marmorsäulen von Melchtal nach Sachseln transportiert wurden, trug Hans Rotzer statt eines Steckeisens eine starke Tanne auf der Achsel. Mit derselben hat er die Gartenmauer vor dem Rössli in Sachseln, weil selbe der ferneren Fortschaffung der Säule ein Hindernis gewesen wäre, demoliert.
Entsprechend seiner Körperkraft musste er aber auch Nahrung zu sich nehmen. Aus einem halben Viertel Mehl kochte er sich in einem Kessi auf eine Mahlzeit ein Kohlerinus, ass dann aber die ganze Woche nichts mehr. Rotzer hatte seine Hosen mit einem Gurte befestigt der viele Ricke besass; wenn er nun so zu Mittag gegessen hatte, musste er jedesmal zwei Ricke loslassen; das machte aber beinahe eine halbe Elle.
Hans Rotzer war ein reichbegüterter Mann; er hatte Anteil am Kilchernutzen. Mit seiner Riesenstärke übervorteilte er andere Gemeindegenossen dadurch, dass er, als man auf dem Genossenlande Heu sammelte und jeder das Recht hatte, gleichviel Bürden zu nehmen, jedesmal so viel in ein Seil fasste und nach Hause trug, als sonst vier andere Männer, die mit ihm gleichberechtigt waren, aber begreiflich nicht so viel wie Rotzer zu tragen vermochten.
Hans Rotzer war auch ein in weiten Landen bekannter unbezwingbarer Schwinger, Nun erschien einmal im Melchtal ein Riese von ungeheurer Körperfülle. Dieser Riese forderte den Hans Rotzer zum Schwingen heraus. Hans Rotzer willigte ein, erklärte aber, vorerst das Mittagsmahl einnehmen zu wollen. Der Riese wurde daraufhin von Hans Rotzer derart auf den Rücken gelegt, dass ihm das Genick brach und er maussteintot auf dem Boden liegen blieb.
In Anbetracht, dass Hans Rotzer seine vom Bösen erhaltene Körperkraft auch in den Dienst Gottes stellte und den für die Kapelle im Melchtal benötigten Platz unentgeltlich hergab, wurde er vom barmherzigen Gott vom ewigen Tode erlöst, hingegen verurteilt, bis zum jüngsten Tage im Klysterli und Untersteiglen zu wandeln. Dort wandelt nun Hans Rotzer, unter den Älplern als Klystermann bekannt. Jedesmal wenn er gesehen wird, ist das ein Zeichen, dass das Wetter schlecht wird oder dass es Hagel oder Schnee gibt.
In den Alpen, denen er Besuch abstattet, benimmt er sich ungeniert, schlägt die Türen auf und zu, macht Feuer, kocht ab, reitelt das Käskessi über, beginnt zu käsen, steigt sogar über die Dasternleiter hinauf und legt sich in ein leeres Plätzchen zur Ruhe. Vergisst ein Älpler den Betenruf, dann ruft der Klystermann so g'häll z'beten, dass einem Hören und Sehen vergeht. Vornehmlich von der Alp Arni wird dieses Rufen gehört.
Einst gelang es einem, ihn zu befragen, was man zu seiner Erlösung tun müsse. Es sei alles umsonst, erwiderte er, und sollte ihn künftig einer mehr mit Fragen belästigen, so werde er ihn zu Staub und Asche Verblasen.
Hans Rotzer ist eine historische Persönlichkeit. Im Jahre 1676, 20. November, verkaufte Hans von Rotz im Melchtal Haus und Garten auf dem Blätzli unter der Strasse seinem Tochtermann Melchior Amschwand um 550 Pfd., die dieser zum leichten Zins, d. h. zu 4 Prozent verzinsen musste. Er war Ratsherr von 1662 bis zu seinem Tode, den 27. Juni 1700. Er sass im Gericht in den Jahren 1652, 1663, 1679. Wegen seiner ausserordentlichen Kraft wurde er der Starke genannt.
Laut Stuhlrodel der Alpgenossenschaft Melchtal vom 24. Christmonat 1698 hatte er auf den Melchtaler-Alpen für 25 Kühe und 2 Maisrinder Älpung.
Aus: Franz Niederberger Sagen und Gebräuche aus Unterwalden, Sarnen 1924. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch