Es waren einmal ein König und eine Königin, die hatten zwei Söhne und eine Tochter. Die Tochter hiess Giugliauna, die Söhne Ferdinand und Ludovic. Prinzessin Giugliauna war vor vier Jahren allein im Wald spazieren gegangen und blieb seither verschwunden. Alle Leute sagten, sie sei verzaubert worden, denn seit jenem Tage stand eine Salzsäule vor dem Palasttor. Heute waren es gerade vier Jahre her, und alle trauerten mehr denn je. Besonders Prinz Ferdinand ging schon seit dem frühen Morgen grübelnd in der Stube auf und ab. Prinz Ludovic fragte ihn, weshalb er so unruhig sei und was er so heftig zu grübeln habe. Er sprach: «Mein lieber Brüder, ich hatte diese Nacht einen seltsamen Traum. Wir zwei gingen zusammen durch einen dichten Wald, und nach vielen Stunden kamen wir zu einem kleinen Haus. Wir gingen hinein, und dort hörten wir die Stimmen zweier Frauen, die redeten über unsere Schwester. ‹Jetzt nach vier Jahren,› sagte die eine zur andern, ‹ist es an der Zeit, die verzauberte Prinzessin Giugliauna auf dem Glasberg zu erlösen.› Ich habe sehr gut gehört, was sie gesagt haben, und ich weiss noch genau den Weg, den ich im Traum gesehen habe. Jetzt darf man keine Zeit verlieren. Retten wir sie heute nicht, so retten wir sie nie mehr!» Prinz Ludovic antwortete: «Ja, du hast Recht, wir wollen unverzüglich aufbrechen, bevor der Vater und die Mutter von ihrem Spaziergang daheim sind!» Und - tatsächlich - kurze Zeit später waren sie schon unterwegs.
Als der König und die Königin von ihrem Spaziergang zurückkamen, sahen sie mit Schrecken vor dem Palast statt einer Salzsäule deren drei! Des Königs erste Frage war: «Wo sind die zwei Prinzen?» Jetzt durchsuchten sie das ganze Haus, doch weder der eine noch der andere war auffindbar. In halber Verzweiflung begann die Königin zu weinen und jammerte: «O arme Unglückliche, die wir sind! Jetzt bleibt uns von drei Kindern nicht einmal eines. Alle drei sind verzaubert.» Der König liess augenblicklich im ganzen Land verkünden, wer seine Kinder finde, der werde die Hälfte seines Vermögens und den Palast nebenan auf dem Hügel bekommen. Viele Leute gingen sie suchen, aber keiner konnte die Prinzen und die Prinzessin finden.
Unterdessen waren die zwei Prinzen in einen riesigen Wald geraten, der immer dichter wurde. Die Pferde kamen nur mit Ach und Krach voran, denn von einem Pfad war nichts zu sehen. Aber auf einmal tat sich vor ihnen eine grüne Lichtung auf, und mittendrin stand ein kleines Haus. Da rief Prinz Ferdinand voller Freude: «Ludovic, Ludovic, genau dies ist der Ort und das Haus, die ich im Traum gesehen habe. Wir wollen im Schuss hinüberreiten!» Und sie gaben den Pferden die Sporen und waren in wenigen Augenblicken beim Haus. Hier banden sie ihre Tiere an den Zaun und gingen hinein. Zuerst kamen sie in ein Zimmer, wo für zwei Personen aufgetischt war. Nun sagte der eine zum andern: «Das scheint gerade für uns zu sein! Tun wir so, als wären wir zuhause und beginnen wir zu essen!» Und zu essen und zu trinken gab es reichlich: frische und geräucherte Würste, dicke Salsize, einen wunderschönen Braten und sogar einen übervollen Teller mit Fastnachtsküchlein. Mitten auf dem Tisch stand eine Korbflasche mit altem Wein. Nach dem Essen gingen sie in den Gang hinaus. Von dort führte eine Treppe in den zweiten Stock. Zuoberst auf der Treppe sahen sie eine offene Tür. Sie traten ins Zimmer und fanden darin zwei Betten, die waren mit schönen Spitzenleintüchern bezogen. Sie gingen zu Bett, und todmüde schliefen sie sogleich ein. Aber Schlag Mitternacht erwachten sie, weil es stark bebte. Und auf einmal hörten sie eine Stimme:
«Schwester, Schwester,
Was gibt’s Neues heute Abend,
Dass der schöne Prinz Ferdinand
Und der schöne Prinz Ludovic hier sind?»
«Das will ich dir wohl sagen», antwortete die andere Stimme, «sie sind hier, um ihre Schwester auf dem Glasberg zu suchen.» - «Was glaubst du», fragte wiederum die erste, «könnten wir tun, um sie zu retten?» - «Das kann ich dir genau sagen: Im Gang unten, auf dem Tisch, sind eine Kiste mit Flaschen, ein Tüchlein mit Fleisch und ein Sack mit Salz. Wenn sie auf den gläsernen Berg gelangen, werden ihnen zwei Hunde entgegenkommen, denen müssen sie das Fleisch hinwerfen. In den Flaschen ist spanischer Wein mit einem Schlafmittel drin; diesen müssen sie dem Schlossvogt geben, dann werden sie den Palast betreten können. Wenn sie herauskommen und über den Steg gehen, müssen sie den Sack mit dem Salz ins Wasser werfen, denn in diesem ist das Herz des Drachen drin, der die Prinzessin Giugliauna verzaubert hat. Wenn sie alles so tun, wie ich gesagt habe, wird es ihnen gut gehen.» Nun hörten die Prinzen eine Tür zugehen - und alles war wieder still.
Bei Tagesanbruch standen sie auf und gingen hinunter, um zu essen. Auf dem Tisch im Gang fanden sie, wie es die Stimme gesagt hatte, alle Sachen, und sie nahmen diese mit. Dann stiegen sie auf die Pferde und ritten durch ein schönes, weites Tal. Es war ein prächtiger Tag und sehr heiss. Gegen Abend sahen sie in der Ferne einen Berg, der in der Sonne wie ein Diamant glänzte und leuchtete. «Aha», sagte Ferdinand, «das ist jetzt der Glasberg.» Sie liessen ihre Pferde schneller laufen und waren so in Kürze am Fuss des Berges. Sie banden die Pferde an einen Baum, und mit grosser Mühe kletterten die Prinzen auf den Berg. Zuoberst war ein grosses Eisengitter, und dahinter sahen sie einen wunderschönen Glaspalast. Aber kaum haben sie mit der Hand das Tor berührt, so springen zwei riesige Hunde herbei, die zeigen ihnen die Zähne und wollen sie packen. Blitzschnell werfen sie das Fleisch, das sie mitgenommen haben, übers Gitter. Sobald die Hunde das Fleisch sahen, vergassen sie unsere zwei Prinzen und begannen mit grosser Lust zu fressen. Die Prinzen öffneten nun das Tor und gingen bis zum Palast. Ferdinand wandte sich um und sagte: «Schau da drüben die Hunde, die haben genug Fleisch bekommen; sie sind mausetot!» Das Palasttor öffnete sich, und heraus kam da ein Männlein in kurzen Samthosen und einem langen Frack mit Goldschnüren. Es schien wenig Lust zu haben, sie einzulassen und sagte: «Was habt ihr hier in diesem Palast verloren?» Prinz Ferdinand antwortete sogleich mit allem Anstand: «Wir haben gehört, dass Euer Schlossvogt sich mit guten Weinen bestens auskennt, und wir bringen hier ein paar Muster der feinsten spanischen Weine, die man auf dieser Welt kriegt.» Da begann das alte Männchen mit der Zunge zu schnalzen, denn auch er goss den Wein nicht in die Schuhe! Ferdinand öffnete unverzüglich eine Flasche, bot ihm ein Glas an und sagte: «Hier, versucht nur; Ihr werdet sehen, wenn das kein kostbarer Wein ist!» Das Männlein nahm einen zünftigen Schluck, und indem es durch das Glas mit dem golden glänzenden Wein schaute, sagte es: «Mit diesem Wein will ich dafür bürgen, dass Ihr Euer Glück macht!» Ferdinand gab ihm jetzt zwei Flaschen und erwiderte: «Ich sehe, dass Ihr ein Kenner seid und bitte Euch, diesen Wein auch Euren Meister probieren zu lassen.» Der Diener dachte eine Weile nach und meinte dann: «Das ist alles schön und gut, aber ich wage es nicht, zu meinem Meister hinaufzugehen, denn heute ist er nicht besonders gut dran und hat schlechte Laune.» Ferdinand überlegte nicht lange und gab ihm einen mit Silberfaden bestickten Beutel voller Goldmünzen. Sobald der Diener den Geldbeutel sah, machte er eine gewaltige Verbeugung, so dass der Frackschoss durch die Luft flog, und er lief sofort mit den Flaschen in den Palast und in den Saal des Schlossvogts.
Nach längerer Zeit kehrte der Diener zurück und sagte: «Meine Herren, wenn der Wein nicht gut ist, bei Bacchus! Nach langem Zureden konnte ich meinen Meister überzeugen, diesen Wein zu probieren. Aber schon nach dem ersten Schluck, den er nahm, schrie er: "Par bleu! Dies ist nun wirklich echter spanischer Wein! Her mit einem weiteren Glas!" Und immer, wenn er ein Glas geleert hatte, so musste ich ein anderes füllen, so dass er nach dem sechsten zu lallen begann, und jetzt - nur einen Augenblick später - ist er auf seinem Sessel fest eingeschlafen. Kommt nur hinauf in den Saal.» Im Saal oben sahen sie den Schlossvogt in voller Länge auf dem Fussboden liegen, und Ludovic, der einen Blick auf ihn warf, sagte: «Der ist nicht nur eingeschlafen, der ist mausetot!» Und tatsächlich, so war es wirklich.
Jetzt sprach Ferdinand zum Diener: «Lassen wir die Toten ruhen, und gehen wir zu den Lebenden. Ihr kommt augenblicklich mit uns und zeigt uns das Zimmer, wo die verzauberte Prinzessin Giugliauna eingesperrt ist. Denn Ihr sollt wissen: Wir sind nicht zu Euch gekommen, um Wein zu verkaufen, sondern um unsere liebe Schwester, die Prinzessin Giugliauna, zu befreien. Geht und sagt ihr, dass wir zwei hier sind.» Ganz verblüfft sprach der Alte: «Aber wie ist das möglich? So etwas. Seid Ihr wirklich die Prinzen? Oh, dann will ich sofort hinauf und ihr die Nachricht bringen. Jetzt wird sie aufhören zu klagen und zu weinen!»
Der Alte ging hinauf ins Zimmer der Prinzessin und fand sie dort traurig wie immer. Weinend sagte sie: «Jetzt habe ich die Hoffnung vollends verloren, noch einmal meine Eltern und meine Brüder zu sehen, denn heute sind es genau vier Jahre her, dass ich hier bin.»
Da erwiderte der Alte: «Seid guten Mutes, ich glaube, gerade heute besteht Hoffnung, dass Ihr befreit werden könntet. Es sind zwei Herren eingetroffen, die Euch sprechen wollen.» - «Was! Wo steht dir der Kopf, dass du mich aus diesem Zimmer hinauslassen willst? Wenn der Schlossvogt mir begegnet, so bin ich verloren.» - «Vor dem Schlossvogt braucht Ihr Euch nicht mehr zu fürchten; der ist in eine andere Welt verreist, wir haben ihn tot im Saal gefunden.» Da ging die Prinzessin sofort mit ihm, und als sie in den Saal kommt - was sieht sie? Ihre beiden Brüder! Mit einem Freudenschrei fiel sie den zwei Prinzen in die Arme. Jetzt sagten alle drei: «Keinen Augenblick mehr bleiben wir hier in diesem Palast; wir wollen so schnell als möglich zu unsern Eltern gehen.» Der Diener lief sogleich in den Stall, legte dem Schimmel der Prinzessen die mit Gold bestickte Decke auf, und bald darauf waren alle vier unterwegs – das alte Männlein, das immer gut zur Prinzessin gewesen war, hatten sie mitgenommen. Nun gelangten sie zum Steg, und auf einmal begannen die Pferde zu schnauben und sich aufzubäumen und waren weder mit Locken noch mit Drohen weiterzubringen. «Aha», sagte Ferdinand, «jetzt ist es Zeit, den Sack mit dem Salz ins Wasser zu werfen!» Der wog furchtbar schwer, doch kaum war er im Wasser, gab es ein fürchterliches Beben. Der Glasberg mit Palast, Schlossvogt und allem fiel zusammen, und der Drache, der sie verzaubert hatte, war tot.
Und im selben Augenblick waren die drei Salzsäulen vor dem Königspalast wie vom Erdboden verschluckt. Der König, der gerade auf dem Balkon stand und die Säulen verschwinden sah, rief sogleich voller Freude der Königin: «Sieh, sieh nur, was geschehen ist! Die Säulen sind verschwunden. O was für eine riesige Freude! Unsere Kinder sind am Leben!» Und in dem Augenblick sahen sie ihre Kinder ankommen. Nun könnt ihr euch denken, wie sich die Leute im Palast und im ganzen Land freuten, dass die Prinzen und die schöne Prinzessin nach Hause zurückgekehrt waren. Die Festessen dauerten acht Tage lang, und alle hatten ein wunderschönes Leben, und ich glaube, sie sind noch immer da.
(Oberengadin)
Quelle: Die drei Hunde, Rätoromanische Märchen aus dem Engadin, Oberhalbstein und Schams. Caspar Decurtins/Ursula Brunold-Bigler/Kuno Widmer, Desertina Verlag, Chur 2020. © Ursula Brunold-Bigler.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch.