Der kleine Däumling

Land: Schweiz
Region: Ajoie
Kategorie: Zaubermärchen

Es lebten einmal ein Mann und eine Frau, die wünschten sich sehnlichst ein Kind. Die Frau reiste nach Les Ermites, La Pierre und nach Vorbourg, um die Heiligen zu bitten ihren Wunsch zu erfüllen. «Bitte, schenkt mir einen Sohn, und wenn er nur so klein ist wie ein Daumen», betete sie jeden Tag. Endlich wurde den beiden ihr Wunsch erfüllt. Doch als der Junge zur Welt kam, war er nur so klein wie ein Daumen. In den folgenden Jahren kam jedes Jahr ein Kind dazu, aber der Däumling blieb als einziger auch nach sieben Jahren so klein wie ein Daumen.

Gerade zu dieser Zeit war grosse Not im Land. Es gab kaum zu essen und bald war kein Krümel Brot und kein Tropfen Milch mehr im Haus. Die Eltern waren ratlos und sagten schliesslich: «Wir müssen die Kinder im Wald aussetzen, vielleicht überleben sie dort. Sonst müssen wir zusehen, wie sie hier verhungern.»

Aber der Däumling, der unter der Tischbank sass hatte alles gehört. Als die Eltern am nächsten Tag sagten: «Kommt Kinder, wir gehen in Wald Holz sammeln», da band der Däumling ein Fadenknäuel an den Hollerbusch und spulte den Faden ab bis zum Wald. Als die Eltern fort waren, führte er die Kinder am Faden wieder nach Hause. Die Eltern waren froh, ihre Kinder wieder bei sich zu haben. Doch schon nach kurzer Zeit hörte der Däumling wieder, wie die Eltern sagten: «Wir müssen die Kinder in den Wald bringen, dieses Mal aber weiter fort.»

Am anderen Tag nahm der Däumling Salz mit und streute es auf den Weg. Doch am Abend hatten die Tiere das Salz aufgeleckt und sie fanden den Weg nicht mehr. Da kletterte der Däumling auf einen Baum, sah von weitem das Licht und so kamen sie heil nach Hause.

Wie wunderten sich die Eltern, als die Kinder an die Tür klopften. Von da an brachten sie die Kinder nicht mehr in den Wald und gemeinsam überstanden sie die schlimme Zeit, bald ging es der Familie wieder gut und der Vater konnte einen Ochsen kaufen, um das Feld zu pflügen.

Alle Kinder mussten helfen bei der Arbeit. Damit aber der Däumling nicht verloren ging, setzte der Vater ihn zwischen die Ohren des Ochsen.

«Halt dich hier still», sagte er, «du bist zu klein zum Arbeiten und wirst nie so stark sein, dass du einen Wolf am Schwanz packen kannst.»

Einmal war der Däumling allein unterwegs. Da fing er an zu jodeln. Das hörten Diebe, sahen den kleinen Wicht und sagten: «Du kommst uns gerade recht, du sollst uns beim Stehlen helfen!» Und schon steckten sie ihn unter ihren Hut.

In der Nacht schlichen sie mit Hilfe des Däumlings in den Keller des Pfarrhauses, um Wein und Speck zu holen. Kaum waren sie drinnen, rief der Däumling laut: «Welchem Wein nehmt ihr, den weissen oder den roten?»

«Sei still, sonst findet man uns», sagten die Diebe, aber der Däumling rief: «Von welchem Speck nehmt ihr, vom kleinen oder vom grossen?»

Die Diebe versuchten ihm die Hand vor den Mund zu halten, doch der Däumling entkam und versteckte sich unter dem Kohl, der im Keller lagerte.

Inzwischen hatte die Magd den Lärm gehört. Sie nahm eine Laterne und ging in den Keller. Schnell kletterten die Diebe aus dem Kellerfenster, den Wein und den Speck liessen sie liegen.

Die Magd schaute sich um, schloss das Fenster und als sie niemanden unten sah, nahm sie einige Kohlblätter, um damit die Ziege zu füttern. Diese verschlang die Kohlblätter mitsamt dem Däumling.

Als die Magd die Ziege am nächsten Tag melken wollte, sagte sie zu ihr: «Steh auf, Noirette!»

Aber der Däumling im Bauch der Ziege rief: «Bleib liegen, Noirette!»

Erschrocken lief die Magd zum Pfarrer und rief: «Die Ziege ist verhext!»

Sie beschlossen die Ziege zu schlachten. Die besten Stücke nahm die Magd in die Küche. Den Ziegenmagen aber schenkten sie einer armen Frau. Unterwegs fing der Däumling im Ziegenmagen an zu jodeln, so dass die arme Frau den Ziegenmagen fallen liess. Das roch ein Wolf, schnappte sich den Ziegenmagen und verschlang ihn mitsamt dem Däumling. Nun sass er im Wolfsbauch und musste warten, bis er hinten wieder herauskam!

Als das geschehen war, packte der Däumling den Wolf am Schwanz und schrie so laut, dass der Wolf vor Schreck davonsprang. Er rannte quer über die Felder, wo gerade der Vater des Däumlings sein Feld pflügte.

Der Däumling rief: «Vater, ich habe den Wolf am Schwanz gepackt!» Dann liess er los, und der Wolf verschwand im Wald.

Wie war der Vater froh, dass der Däumling wieder da war. Zu Hause wuschen sie ihn, setzten ihn auf die Ofenbank und er erzählte ihnen von all seinen Abenteuern und wahrscheinlich noch viel mehr.

 

Fassung Djamila Jaenike, nach: G. Lovis, J. Surdez, Vieux Contes du Jura, Porrentruy 1991 unter dem Titel «Le petit Poucet». Aus dem Französischen übersetzt und neu erzählt unter Mitwirkung von Maggie Rüeger

© Mutabor Märchenstiftung, www.maerchenstiftung.ch

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