Vorzeiten wohnte in den ausgehöhlten Felswänden, die sich oberhalb von Günsberg erheben, ein gar seltsames Zwergenvolk. Die käsehohen, weißbärtigen Gestalten pflegten barfuß daherzukommen. Sie lebten mit den armen Bauern des Dorfes in bester Freundschaft und halfen ihnen, wo und wie sie nur konnten. Wenn die abgemagerten Bergler im Frühling ihre Jura weiden von Steinen und Gestrüpp reinigen, den kargen Boden pflügen und bepflanzen wollten, war dies alles am Morgen schon verrichtet. Arbeiteten die Leute auf dem Lande, so brachten ihnen die Bergmännlein labenden Honigkuchen, reichten ihnen erquickendes süßes Wasser und beträufelten die Gräser und Kräuter mit einem wundersamen Tau. Die Güns- bergerziegen gaben mehr und nahrhaftere Milch als alle andern Tiere der Umgebung. Wie im Frühling, so halfen die guten Geister ihren Berggenossen auch während der übrigen Zeiten des Jahres auf die verschiedenste und nützlichste Art. Alles ging gut, und man wußte die Dienste der Zwerge zu schätzen.
Da fiel einigen übermütigen und arbeitsscheuen Burschen des Dorfes ein, den Bergmännlein Fallen zu stellen. Man wollte die Däumlinge fangen und zur täglichen Arbeit zwingen. Die schlauen Zwerge erkannten aber die treulose Gesinnung ihrer Menschenkinder. An einem kühlen Morgen sammelte sich das ganze Heer des Zwergenvolkes auf den zackigen Flühen. Es beschloß auszuwandem. Jeder Zwerg trug seine sieben Sachen zusammen. Dann rötete sich der Himmel, und es erscholl vom Berg herunter wie aus einem tausendstimmigen Geisterchor:
«So lang das Dörflein Günsberg steht,
Des Menschen Neid und Haß nie mehr vergeht.»
Von Stund an verschwanden die dienstbereiten Geschöpfe. Die Güns- berger Bauern waren fortan auf eigene Kraft und Arbeit angewiesen und müssen ihr Brot gleich andern Menschen im Schweiße ihres Angesichts verdienen.
Aus: L. Altermatt, Solothurner Sagen, in: Jurablätter. Monatsschrift für Heimat- und Volkskunde, Band 13, 1951. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch