Es war einmal ein Graf von Falkenstein. Durch den frühen Tod seiner Frau hatte sich bald seine Lebensart verändert. Er vertrieb sich nun die Zeit mit Zechen und Raubzügen, gefürchtet von seinen Untertanen, gefürchtet auch von allen, deren Weg über den Hauenstein führte.
Vor kurzem hatte nun dieser Raubritter drunten im Hohlweg des Passes einen reichen Fang gemacht. Kaufleute aus dem Welschland hatte er ihrer kostbaren Lasten entledigt. Die Fässer mit köstlichem Wein waren im Keller versorgt; ihre früheren Besitzer aber, soweit sie nicht niedergestreckt worden waren oder in der Flucht ihr Heil finden konnten, lagen wohlverwahrt im Verließ des Turmes.
Daraufhin feierte der Schloßherr seinen glücklichen Raub mit seinem Schwager von Bechburg und dem Grafen von Thierstein. Reichlich floß der welsche Wein aus den gestohlenen Fässern in die zinnernen Kannen. Feurig funkelte er in den Bechern der lärmigen Kumpane und stieg diesen allmählich in den Kopf. Bald sah es wüst im Saale aus. Die Sträuße von weißen Nelken mit denen die Mägde den Tisch hatten schmücken müssen, wurden umgeworfen und färbten sich rot im ausgeschütteten Weine. Da kam dem Falkensteiner ein teuflischer Gedanke. «Ihr sollt noch mehr solcher blutiger Nelken sehen», so schrie er und gab einem Knechte einen geheimnisvollen Befehl. Nach kurzer Weile führte er seine Gefangenen zum Turm in die — Folterkammer. Hier schmachteten nun die Beraubten, blutig geschunden und grausam gemartert, in ihrer Qual. «Seht da diesen Blumenstrauß», grölte der Angetrunkene, «seine Farbe ist noch schöner als Ilgen und Wein!» Da konnte ein Opfer nicht länger an sich halten. In seiner Pein schrie es dem Säufer zu: «Verruchter Henker! Gott soll dich strafen mit solchen Blumen!» Die Wut des Falkensteiners war geweckt. Sofort ließ er den jungen Mann, der zu reden gewagt hatte, losspannen. Er wurde auf die Zinnen des Turmes geschleppt und über die abschüssigen Felsen in die Nacht hinaus geschleudert. Das Rauschen des Mümliswiler Baches übertoste den dumpfen Aufschlag des Körpers.
Der Winter war gekommen und vor dem Frühling gewichen. Nun nahte der Sommer. Da ritt eines Tages der Graf von Falkenstein zu Tal, als er plötzlich etwas seltsam Rotes im Gebüsch sah. Rasch ließ er seinen Knecht Nachschau halten. Der brachte ihm sonderbare Blumen: Nelken waren es, aber an ihren Blütenblättern zitterten Blutstropfen. Da fuhr ein Schreck durch den ganzen Leib des Ritters. Die Erinnerung an jene grausige Nacht war wieder erwacht. Er kehrte in sein Schloß zurück, er vermied in Zukunft jeden Ausritt, er wollte diesen Blumen nicht mehr begegnen. Doch bald blühten diese auch an den Mauern der Burg.
Indessen waren die Tage des Falkensteiner gezählt. Die Welschen wollten den Schimpf, der ihren Bürgern angetan worden war, rächen. Gemeinsam mit dem Grafen von Nidau und Kyburg zogen ihre Mannen gegen den Raubritter, belagerten die Burg und hungerten die Besatzung aus. Zuletzt gelang es ihnen, das Schloß in Brand zu stecken. Der Graf von Falkenstein saß eben zu Roß im Hofe, als die Flammen emporloderten. Da wurde das Pferd scheu, raste wie besessen durch den Hof, setzte über die Mauerbrüstung und versank mit seinem Reiter in der Tiefe, dort, wo einst der junge Mensch zu Tode gestürzt war. Seither bluten die Fluhnelken, wie sie später genannt wurden, nicht mehr, aber die rote Farbe behielten sie bis auf den heutigen Tag.
Anmerkung: Diese Sage stammt aus mündlicher Überlieferung. Gustav Hafner, Sigrist zu St. Wolfgang, erzählte sie Hw. P. Dr. Wolfgang Hafner von Baisthal in Engelberg in Verbindung mit den Sitten und Gebräuchen des mittelalterlichen Raubrittertums.
Aus: H. Deubelbeiss, Sagen und Erzählungen aus Balsthal. Jurablätter. Monatsschrift für Heimat- und Volkskunde, Band 24, 1962. Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch