Das Unghür

Land: Schweiz
Kategorie: Sage

Zwei Bauernburschen liebten ein junges, schönes Mädchen in der Nachbarschaft. Beide baten um ihre Hand, beide versprachen, sie glücklich zu machen. Sie liebte nur einen. Sie gab dem ihre Hand, der ihr Herz schon hatte, und das war recht. Der andere bestürmte sie mit Bitten, sie solle den andern fahren lassen, sie werde unglücklich, nur mit ihm könne sie glücklich werden. „Nein“, entgegnete das Mädchen, „wir lieben einander und das ist unser Glück. Sei vernünftig, schlag diese Gedanken aus dem Sinn, heirate ein hübsches braves Mädchen, das Dich liebt, und sei wieder unser lieber Nachbar“. „Und ich sage Dir, es gibt ein Unglück; wenn du den andern nimmst“! rief er trotzig und ging. Sie achtete wenig auf seine Drohungen; er sei im Zorn, der werde schon verrauchen. Kurze Zeit darauf feierten sie die Hochzeit, und lebten still und glücklich beieinander, nicht achtend des Nachbars finstre Miene; denn sie hofften, er werde bald wieder der Alte sein. Aber sie täuschten sich. Je glücklicher sie lebten, desto zorniger wurde er. In einer Nacht ward er von schlechten Gedanken überwunden, er ging zum Hause des Nachbars als alles im tiefen Schlafe lag, kletterte an demselben hinauf, öffnete ein Fenster und schlich leise hinein. Die jungen Ehegatten, nicht Arges denkend, lagen im süssen Schlummer. Rasch zog er den Säbel und hieb mit aller Kraft dem jungen Mann den Kopf ab. Von dem Schlag erwacht die Frau, sieht das Blut aufspritzen. Der Schrecken macht sie fast erstarren; doch sobald sie den Mörder erblickt, der regungslos dastand, schnellt sie empor. Zu ihm hineilen und den Säbel entreissen, ist das Werk eines Augenblicks. „Ich könnte dich auch töten, wie du meinen Mann getötet hast, aber diese Strafe wäre viel zu gering, du hast gehandelt wie ein Unghür und das sollst du bleiben. So viel Jahre sollst du als Unghür umhergehen, so viel Tage mein Mann und ich im Ehestand verlebten, und zwar auch ohne einen Kopf, wie mein lieber Mann jetzt dort liegt“. So sprach sie mit schauderhafter Stimme, dann sank sie tot nieder, auf die Leiche ihres Gatten. Der Mörder ward zur Stunde in ein Unghür verwandelt, man sah ihn oft ohne Kopf am Hause emporklettern. Die Zeit ist vorüber; er hat nun Ruhe.

Quelle: Dr. J. Heierli, Sagen aus dem Kanton Appenzell. Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Band 10,1906.

Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch

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