Vor langer Zeit lebte tief im Wald eine Eule. Sie nistete in der mächtigen Krone einer Eiche und hörte gern zu, wenn die Tiere des Waldes von ihren Freuden und Leiden erzählten. Auch die Eule erzählte gern Geschichten, die der Wind und der Regen ihr von weit her mitgebracht hatten. Eines Tages jedoch beschloss sie, den tiefen Wald zu verlassen und auszuziehen, um neue Geschichten zu hören. Sie breitete ihre Schwingen aus und flog in die weite Welt. Mit ihren grossen Augen sah sie alles, alles hörte sie mit ihren scharfen Ohren, und alles bewahrte sie sorgsam in ihrem Gedächtnis. So vergingen die Jahre, und die Eule wurde älter und immer weiser. Da verspürte sie Sehnsucht nach ihrem Wald und der grossen Eiche und sie beschloss, heimzukehren. Viele Tage und Nächte flog sie, bis sie lautlos in der Krone der alten Eiche landete. Als die Tiere des Waldes hörten, dass die weise Eule zurückgekehrt sei, versammelten sie sich im Mondschein unter der Eiche und wollten die Märchen hören, die sie aus der weiten Welt mitgebracht hatte. Die Eule erzählte so wunderbare Dinge, dass niemand schlafen gehen wollte. Sie reihte ihre Märchen aneinander wie Perlen auf eine Schnur, und alle Tiere lauschten mit angehaltenem Atem. «Wie weise du bist, Frau Eule!», sagte ein Bär, nachdem die Eule geendet hatte. «Ich habe so viel gelernt von dir, da ist es doch zu schade, dass die Menschen deine Märchen nicht kennen.» Die weise Eule dachte lange über die Worte des Bären nach. Als sie fühlte, dass sie nicht mehr lange zu leben hatte, nahm sie ein dickes Buch und einen Federkiel. Sie schrieb und schrieb und schrieb, und als sie das letzte Märchen aufgeschrieben hatte, schloss sie ihre Augen für immer. Das dicke Buch jedoch war unter die Eiche gefallen, und dort fand ich es. Ich schlug es auf, und da stand geschrieben:
«Vor langer Zeit ...»
aus: Kindermärchen aus aller Welt © Mutabor Verlag
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch