Ein frommer Schuhflicker hatte weder Haus noch Geld. Da beschloss er, in die Welt zu gehen und Arbeit zu suchen. Er kam in eine grosse Stadt und fing an zu rufen: „Eh, der Schuhmacher! Wer hat Schuhe zu flicken?"
Viele Leute kamen zu ihm und gaben ihm Hausschuhe zu flicken. Jetzt hatte er Arbeit, aber nun fehlte ihm das Haus. Deshalb wollte er gehen, sich eins zu suchen. Das war eine schwierige Sache, denn alle die Hausherren wollten so viel Geld, und das hatte er nicht.
Als er durch eine stille Strasse kam, sah er einen dunklen Palast, der unbewohnt schien und an seiner Türe hing ein Zettel, darauf stand geschrieben:
Alle die Hausbewohner, die in diesem Haus wohnten, wurden nach der ersten Nacht auf dem Boden hingestreckt gefunden, gestorben vor Angst. Wem es gelingt, eine Nacht hier ruhig zuzubringen, braucht keine Miete zu bezahlen, sondern bekommt obendrein das Haus geschenkt.
Unser Schustersmann wollte das Unternehmen versuchen. Er stand allein, war arm, niemand weinte um ihn, wenn er starb. So ging er zu den Besitzern, die im Hause gegenüber wohnten und der Vertrag wurde aufgesetzt. Er bekam die Schlüssel und betrat sofort den geheimnisvollen Palast.
Er stieg die Treppen hinauf und fand sich in einem grossen Zimmer mit sechs Sesseln im Kreis. Und da, in die Mitte, setzte er seine Schusterbank. Er zündete das Öllämpchen an, denn es wurde schon Nacht, und begann zu arbeiten. Er klopfte Leder und zog den Bindfaden. Mitternacht schlug dumpf auf der Uhr über dem grossen Kamin aus schwarzem Marmor. Noch war der zwölfte Schlag nicht verklungen, als er unten an der Haustüre ein dumpfes Geräusch wie von Totensärgen, die zusammenbrechen, hörte und ein schwerer Tritt kam die Treppe herauf und Gerassel von Ketten. Die Türe öffnete sich und ein Mann trat in den Saal. Dieser Mann war ganz von Flammen und Ketten bedeckt. Die Ketten waren rotglühend, die Flammen gross und die Hitze sehr stark. Der Mann ging und setzte sich in einen der sechs Sessel und hier blieb er, um zu leiden und zu büssen.
Danach kam ein anderer schwerer Tritt und ein anderer feuriger Mann, mit Ketten bedeckt, setzte sich auf den nächsten Sitz. Dann trat ein dritter, ein vierter, ein fünfter und noch ein sechster ein, alle brennend und mit glühenden Ketten gebunden, so dass alle Sessel besetzt waren und ein heftiger Geruch von verbrannten Sachen sich verbreitete.
Der Flickschuster, welcher die heilige Furcht Gottes hatte, begann zu beten und sich zitternd der Gnade Gottes anzubefehlen. Da hörte er plötzlich auf der Treppe einen natürlichen Schritt, ohne Kettengeräusch und ins Zimmer trat ein Mann, der keine Flammen trug und wie ein anderer Mensch gekleidet war. Der wandte sich an den betenden Schuster und sagte: „Du bist zu meinem Heil gekommen, geh dort in diese Ecke, nimm jene Hacke!"
„Nimm du sie!"
„Nein du, weil ich es nicht kann."
„Nimm du sie, denn ich will nicht."
„Nimm sie um Gottes willen!"
So nahm der Schuster die Hacke und der Mann sagte zu ihm: „Da in der Ecke ist ein Schlüssel. Nimm auch diesen Schlüssel."
„Nimm du ihn."
„Nein du, weil ich es nicht kann."
„Nimm du ihn, denn ich mag nicht."
„Nimm ihn um Gottes willen!"
Und der Schuster nahm den Schlüssel.
Nun zeigte ihm der Mensch den zuerst Eingetretenen: Dieser Mann war ein grosser Dieb und stahl viele Goldstücke. Bevor er starb, bat er den zweiten, der sein Sohn ist, das Geld zurückzugeben. Aber als sein Vater tot war, zog er vor, alles selbst zu behalten und erst bei seinem Tode bereute er und befahl dem dritten, der sein Sohn ist, es den Eigentümern zurückzugeben. Aber auch der dritte tat nicht den Willen des Vaters. Sterbend erinnerte er sich des Versprechens und bat seinen Sohn, den vierten hier in der Reihe, es an seiner Stelle zu erfüllen. Aber die Rückgabe wurde weder von ihm noch von seinem Sohn, dem fünften, noch von seinem Enkel, dem sechsten, gemacht. Alle behielten das Geld für sich.
Dieser sechste ist mein Vater, welcher starb, ohne mir etwas zu sagen. Deshalb trage ich keine Ketten und brenne auch nicht. Jedoch werde ich keinen Frieden erlangen, bis die Goldstücke zurückgegeben worden sind. Steige mit mir in den Keller."
Und sie stiegen hinunter und der Schuster öffnete mit dem Schlüssel die eiserne Türe. Er hackte und hackte, bis sie einen Schlauch fanden voll von Goldstücken. Dann noch einen zweiten und dritten und zuletzt einen vierten. Das war der letzte.
Nun sagte der Mann: „Der erste Schlauch gehört dir für deine Arbeit, den zweiten gib dem Besitzer dieses Palastes, der dir ihn dafür zu eigen gibt, die zwei anderen wirst du zu den armen Leuten tragen, die in der elenden Hütte wohnen am Ende der Strasse und die in Elend gekommen sind durch die Schuld meiner Voreltern sechs Geschlechter hindurch."
Als er das gesagt hatte, verschwand er und mit ihm auch seine Vorfahren, die auf den Sesseln brannten.
Der Schuster tat, wie ihm befohlen und es ging ihm gut, denn der schöne Palast blieb ruhig, und er lebte viele, viele Jahre dort von dem Geld aus dem geschenkten Schlauch.
Quelle: L. Clerici, Helene Christaller (Übers.), Märchen vom Lago Maggiore.
Nach mündlicher Überlieferung gesammelt von Luigi Clerici, Basel o. J.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch; typografisch leicht angepasst.