Ein Kaufmann hatte drei schöne Töchter. Besonders die jüngste war von aussergewöhnlicher Schönheit. Als er einmal genötigt war in Geschäften zu verreisen, fiel ihm ein, er wolle jeder ein Geschenk mitbringen und er fragte sie, was sie zu haben wünschten.
Da sagte die erste: „Eine Perlenkette, lieber Vater", die zweite: „Ein Spitzenkleid." Die Jüngste wollte nur eine kleine Sache: „Drei weisse Nelken."
Die drei Jungfrauen begleiteten den Vater zum Schiff und dieser reiste ab. Als sie nach Hause zurückkehrten, fanden sie eine alte Frau, die sie um ein Almosen bat. Die zwei Älteren drehten sich auf die andere Seite und taten so, als hörten sie nicht, aber die Jüngste, die ein gutes Herz hatte, nahm das Kleingeld, das in ihrer Tasche war und gab es der armen Alten. Dankbar bot ihr dafür die Alte ein Töpfchen voll Salbe und sagte, das sei gut für jede Wunde.
Die Geschäfte des armen Vaters gingen recht schlecht. Er verlor all sein Geld, das er bei sich hatte und er war sehr traurig darüber, denn jetzt konnte er nicht einmal die Geschenke für seine Töchter kaufen. Da erinnerte er sich, dass Adalgisa, die Jüngste, nur drei weisse Nelken erbeten hatte und er dachte, diese könnte er ohne Kosten bekommen. Und er ging die Nelken zu suchen.
Aber er ging und ging, schon wurde es Nacht und noch hatte er keine gefunden. Endlich begegnete er einer alten Frau, die ihn fragte, was er suche zu dieser späten Stunde und an diesem Ort. Und er sagte ihr, er sei auf der Suche nach drei weissen Nelken, die er nicht finden könne.
Diese Antwort wurde so freundlich gegeben, dass die Alte, die eine gute Fee war, ihm helfen wollte. Sie erhob die rechte Hand mit den Fingern nach oben, so dass der Davorstehende die Handfläche sah und von ihr aus ging ein starker Lichtstrahl, der ein nahes Gatter erhellte. Jenseits dieses Gatters war ein sehr schöner Garten voll herrlicher Blumen. Nun sprach die gute Fee: „Tritt in diesen Garten ein, suche die Blumen, die deine Tochter sich wünscht und trage sie fort. Jedoch drehe dich nicht um, auch wenn man dir nachruft."
Da trat der Mann ein, ging zwischen den Blumen umher, während die Fee ihm die Pfade mit dem Lichtstrahl ihrer Hand erhellte. Aus jedem Gesträuch ertönten Rufe und Stimmen, bald freundlich, bald drohend; aber er drehte sich nicht um. Zuletzt fand er ein Gefäss, aus dem sich stolz eine prächtige Nelke erhob mit drei weissen Blüten. Er fasste sie mit der rechten Hand und zog stark. Da hörte er einen tiefen Seufzer aus der Pflanze kommen. Nun kehrte er rasch zurück nach der Gattertür, denn er wollte sonst nichts weiter. Und wieder rief es aus allen Ecken: „Dreh dich um!" — „Schau!" — „Pst!" - „Pst!".
Aber er drehte sich nicht um, verliess den schönen Garten, dankte der Alten, die ihm noch eine Nussschale als Hochzeitsgeschenk für Adalgisa gab und der gute Mann machte sich auf nach Hause.
Den Töchtern, die ihm fröhlich entgegengingen, erzählte er sein Unglück und sagte ihnen, dass er nichts mitgebracht habe als die Nelken für Adalgisa, weil die nichts gekostet hätten. Und mit den Blumen gab er ihr auch die Nussschale, die das Mädchen in das gleiche Versteck wie die Salbe tat. Die Blumen dagegen pflanzte sie in einen schönen irdenen Topf, den sie ans Fenster ihres Zimmers stellte. Sie pflegte und begoss sie und betrachtete sie stundenlang.
Die zwei Schwestern, die schon übler Laune waren, weil sie kein Geschenk bekommen hatten, konnten es schlecht ertragen, dass Adalgisa all ihre Zeit bei den Nelken zubrachte. Eines Tages verloren sie die Geduld, liefen hinauf und warfen Blumen und Topf hinunter in den Hof. Der Topf zersprang in tausend Stückchen, während die drei weissen Blumen fast zerdrückt wurden von der Erde und den Scherben, die auf sie fielen.
Adalgisa war verzweifelt, glaubte nicht mehr leben zu können ohne ihre schöne Nelke und stürzte sich kopfüber aus dem gleichen Fenster hinaus.
Aber sie tat sich keinerlei Schaden, denn die Erde fing den Stoss auf und — oh Wunder! — die Nelke verwandelte sich in einen schönen braunen Jüngling. Aber sein Gesicht und seine Hände waren blutig von den Scherben des Topfes.
Adalgisa lief das Paket zu holen, wo sie die Salbe und die Nussschale bewahrte und mit der Salbe bestrich sie die Hände und das Gesicht des Jünglings. Da verschwanden wie durch Zauberei alle Wunden und die zwei jungen Menschen umarmten sich glückselig. Dabei fiel aus den Händen des jungen Mädchens die Nussschale und kaum hatte sie den Boden berührt, verwandelte sie sich in eine reich geschmückte Kutsche mit sechs Pferden. Der Jüngling, der ein Königssohn war, verneigte sich vor seiner Schönen, reichte ihr die Hand zum Aufsteigen und sprang dann selbst auf.
Die Fahrt ging zum König, der glücklich war, seinen Sohn wieder erlangt zu haben und keine Einwendung gegen die Heirat machte. Sie wurde mit grosser Pracht gefeiert. Auch der Vater der Braut war dabei und der König machte ihn zum Baron.
Quelle: L. Clerici, Helene Christaller (Übers.), Märchen vom Lago Maggiore.
Nach mündlicher Überlieferung gesammelt von Luigi Clerici, Basel o. J.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch; typografisch leicht angepasst.