Es war nahe an Weihnachten. Ein armer Mann, der nichts für diesen Tag hatte, beschloss etwas zu stehlen, um einen Braten zu bekommen.
Im Geheimen schlich er sich in einen Hühnerstall. Es war Nacht und so dunkel, dass er keines von den erschreckt um ihn flatternden Hühnern sehen konnte. Endlich, zuletzt in Wut, immer ins Leere greifen zu müssen, gelang es ihm, eine Handvoll Federn zu fassen. Und in grosser Erregung und Angst, man könne ihn erwischen, lief er hinaus und glaubte, er hätte etwas gefangen. Aber wie ward ihm übel, als er bei näherer Betrachtung nur den Schwanz eines Truthahns in Händen hatte. Der bessere Teil war im Hühnerstall geblieben und er kehrte sehr geduckt nach Hause zurück.
Am Tage danach wollte er beichten und ging zum Priester. Mit den anderen Sünden beichtete er nun, auf welche Weise er einem Truthahn den Schwanz ausgerissen habe. Der Priester war sehr empört und sagte, er habe eine schwere Sünde begangen und könne die Absolution nur erlangen, wenn er eine Messe lesen lasse. Der Arme antwortete, dass er kein Geld habe, die zwei Lire zu bezahlen und schliesslich habe er ja nicht gestohlen, da er nur die Federn fortgetragen habe.
„Du hast nicht gestohlen, mein Sohn", erwiderte der Priester „aber du hast es beabsichtigt. Das ist eine Todsünde, wie wenn du wirklich gestohlen hättest. Und nur mit der Messe kannst du dich lösen. Die zwei Lire kannst du mir ja später geben, wenn es dir bequem sein wird."
Und so kamen sie überein und so machten sie es. Die Messe wurde gelesen und angehört, beides mit grosser Andacht.
Aber er musste zahlen! Wie es machen? Bei andern das Geld leihen? Ja, so musste er es machen. Um es zurückgeben zu können, mochte irgendein Heiliger helfen. Er fand nun wirklich jemand, der ihm die zwei Lire, in Soldi gewechselt, lieh. Die zwanzig runden Kupferstücke wickelte er sorgfältig zu einer Rolle mit Seidenpapier ein. Nun ging er zu dem Priester. Aber ehe er ins Haus trat, beleckte er einen Augenblick das dünne Papier der Rolle mit der Zunge, so dass ein Teil davon ganz nass und weich wurde. Dann ging er hinein und bot dem Priester das Päckchen auf der Handfläche dar. „Hier, Ehrwürdigster, die zwei Lire für die Messe.“
Der Priester griff rasch mit der Hand nach der Rolle. Aber als er sie wegzog, hatte er nur die leere Papierrolle in Händen. Die schweren Soldi hatten das aufgeweichte Papier durchbrochen und waren in der Hand des Schlaukopfes geblieben, der sie schleunigst in die Tasche steckte. Der Priester wollte sich das nicht gefallen lassen. Aber der andere sagte: „Ich wollte stehlen, aber ich tat es nicht, und Ihr sagtet, dass es meine Absicht gewesen sei und deshalb Sünde. Wenn die Absicht etwas zu tun so ist, als ob es geschehen wäre, so gilt auch Eure Absicht, die zwei Lire zu nehmen. Gerade so, als ob Ihr sie wirklich genommen hättet."
Und er ging schnell davon liess den verdutzten Priester stehen und ihm nachsehen.
Quelle: L. Clerici, Helene Christaller (Übers.), Märchen vom Lago Maggiore.
Nach mündlicher Überlieferung gesammelt von Luigi Clerici, Basel o. J.
Eingelesen von der Mutabor Märchenstiftung auf www.maerchenstiftung.ch; typografisch leicht angepasst.